Mittwoch, 30. Mai 2012

58 Chur martinensem

Als Toni aufwachte, erkannte er Mili im Halbdunkel. Sie gingen aufeinander zu und vereinigten sie in der Liebe. Anschließend erzählte sie ihre Geschichte. AS

„Weißt du noch, wie er mit Paul den Treff ‚Arsenal‘ aufsuchte?“, fragte Mili.
Toni war überrascht, weil sie ihn für gewöhnlich nicht direkt ansprach. Er nickte kräftig. „Er erkannte dort, dass es ein Fehler war, sich nicht um seine eigenen Bedürfnisse zu kümmern.“
„So ist es“, bestätigte Mili und fing ihre Geschichte an.
Tommy hatte ein Kuvert gefunden und konnte sich auf Grund dessen einen gewissen Lebensstil leisten. Er achtete von da an auf seine Bedürfnisse. Was dazu führte, dass der Inhalt des Kuverts nun schwand. Es war eben doch kein magischer Umschlag, der sich von selbst wieder füllte. Als das Geld zur Neige ging, war er genau so arm, wie davor, musste froh sein, dass er bei Jella wohnen und essen konnte und von seiner Mutter gelegentlich etwas Taschengeld zugesandt bekam.
Nach dem Erlebnis im Arsenal-Treff sah er es als seine Pflicht, für seine Bedürfnisse zu kämpfen. Da die Firma sich weiter im Aufbau befand, wandte er sich an einen Freund, der ihm offen gestanden hatte, dass er mit seinem angehäuften Geld und verschiedenen Besitztümern bis zu seinem Lebensende reichlich zu leben habe. Diesen Freund lud er zu sich nach Hause ein, zu einer Zeit, da Jella nicht daheim war. Sie setzten sich auf Sofa und Sessel gegenüber und er eröffnete ihm sein Anliegen.
Obwohl der Freund geahnt haben musste, was auf ihn zukam, war er doch erschrocken. Aber Tommy spürte, wie er sich einen Ruck gab.
„Ja, ich sehe, wie du dich bemühst. Lange kann es ja nicht mehr dauern, bis deine Firma den Aufbau geschafft hat. Das mit dem Kredit geht in Ordnung.“ Und er fügte – bewegt von der eigenen Großzügigkeit – noch ein paar Worte hinzu, die aus dem Mund eines Reichen etwas seltsam klangen. „Ich teile meinen Mantel gerne mit dir.“
Tommy konnte das Leben, das er sich mit seinem gefüllten Umschlag angewöhnt hatte, weiter führen. Er ging einmal die Woche mit Paul in Ausgang und gelegentlich mit einem anderen Freund ins Kino. Er kaufte sich ein paar neue Kleidungsstücke und ab und an ein Buch. Auf ein Auto verzichtete er wohlweislich. Er lebte in bescheidenem Maße seine Bedürfnisse. Das Jahr verging und das Guthaben schwand. Aber in seiner Firma hatte sich nichts geändert. Da nahm Tommy Zuflucht zu seiner alten Gelassenheit, die darin bestand, nicht auf seine Bedürfnisse zu achten und dankbar zu sein, dass Jella sich um ihn sorgte. Seinem Gläubiger sagte er offen, dass sich seine Situation leider nicht geändert habe, dass er ihm aber das Geld zurückgeben werde, sobald die Firma ihn bezahlen könne.

Als Tommy mal wieder seinen Freund auf seinem ausgedehnten Grundstück besuchte, kam ihm von unten ein Wolf entgegen. Zwar mit wedelndem Schwanz, aber doch deutlich ein Wolf. Wie manche Reiche hielt sein ‚Freund‘ lieber wilde Tiere, als die gewöhnlichen Haustiere. Durch dieses Tier sensibilisiert, spürte er, dass der ‚Freund‘ nicht mehr der gleiche war. Er wirkte gehemmt und schien ihn misstrauisch zu beobachten. Tommy ahnte, dass es mit dem Darlehen zusammenhing, aber da er im Moment die Schuld nicht tilgen konnte, schwieg er.
Eines Tages ging Tommy durch den Schulort. Als er über den zentralen Platz, den Flecken, kam, sah er aus der Luft große Teile auf den Platz zufliegen. Ein starker Wind musste einen Stapel von Holzbalken erfasst und davongetragen haben. So kam es, dass just in dem Moment, da er den Platz überqueren wollte, es Balken regnete. Erst wollte er nicht wahrhaben, was er sah. Er schaute zu, wie jemand gegenüber von einem Balken erschlagen wurde. Aber erst als unmittelbar neben ihm ein Balken einschlug, wurde er sich der Gefahr bewusst, in der er sich befand. Da hechtete er hinter den Brunnen, dessen massive Einfassung dem Auftreffen eines solchen Geschosses standhalten musste.
Von dort aus sah er einen Fremden, der aufrecht auf den Brunnen zukam.
„Wie kommt denn sowas?“, rief er diesem zu.
„Chur martinensem ist vorbei“, antwortete der Fremde mit sachlicher Stimme und trat näher zu ihm heran.
Chur was?“, rief Tommy in einer Lautstärke, als müsste er gegen einen Sturm anschreien.
Der Fremde blieb aufrecht stehen. „Die Martins-Kür“, erklärte er. „Das sind die Tage, an denen die Reichen traditionell ihren Mantel mit den Armen teilen. Am Tag danach regnet es für gewöhnlich Balken. Viele Wohlhabende bereuen ihre Großzügigkeit und fallen über ihre Schuldner her – hast du ein Anleihen bei einem Begüterten gemacht?
Tommy fiel seine Schuld ein und er nickte.
Dann warte lieber hier, bis der Regen aufhört, sonst könnte dich ein Balken treffen.
Der Fremde ging weiter, ohne Furcht. Er schien keine Schulden gemacht zu haben.
Tommy musste noch eine ganze Weile warten, bis der Regen nachließ. Dann ging er nach Hause.
Am nächsten Tag lag ein großer Umschlag im Briefkasten, an ihn adressiert. Vom Anwalt des ‚Freundes‘.
‚Da mein Klient mit Ihnen, Tommy Ohnesorg, ‚befreundet‘ ist, erlauben wir Ihnen die Rückzahlung des Kredits in Raten‘ stand da auf kostbarem Papier mit Wassersiegel. Die Termine waren geregelt. Innert eines Jahres war die letzte Rate zu begleichen. Mit einer Anmerkung, was geschehen werde, falls der Schuldner seinen Pflichten nicht nachkommen werde. MLF

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