Wo bin ich denn?, fragte sich
Toni, als er aufwachte. Der harzige Geruch von Kieferholz erinnerte ihn daran, dass
sie sich in einer Berghütte befanden. Tags zuvor hatten sie eine größere
Wanderung unternommen und waren in einer geräumigen Bündner Hütte untergekommen.
Mili hatte ihn doch
begleitet. Wo war sie nur? Als er sich im Raum umsah, fiel ihm ein Tier auf,
das sich aufgerichtet hatte und zur Decke strebte. Erst dachte er, es handle
sich um einen Hund. Das Fell klebte dem Tier am Körper, es war nass, ja sogar
lehmig. Dann sah er, dass es sich aufgrund des Körperbaus und des Schwanzes um
einen Fuchs handelte. Warum dieser sich aufgerichtet hatte, wurde Toni erst
klar, als er unterhalb der Decke einen Vogel sah, der dort seinen Nistplatz zu
haben schien. Obwohl der Fuchs sich immer mehr dem Vogel näherte, zeigte dieser
keinen Argwohn. Wahrscheinlich lenkten ihn das nasse Fell und der Lehmgeruch
davon ab, seinen Erzfeind zu erkennen. Schließlich war die Schnauze so nah,
dass der Fuchs sie wie eine Hand um den Vogel schließen konnte.
Kaum dass der Fuchs verschwunden
war, saß Mili neben ihm. Diese zeitliche Koinzidenz, stimmte Toni misstrauisch.
Plötzlich hatte er das Gefühl, keine richtigen Tiere, sondern Figuren gesehen
zu haben. Das erklärte auch, warum er geglaubt hatte, die Schnauze habe sich
wie eine Hand um den Vogel geschlossen. Und noch ein Rätsel löste sich so. Dass
der Vogel unter der Decke geblieben, ohne, dass er ein Schwirren der Flügel
gesehen hatte. Ob Mili ihm ein Spiel vorgeführt hatte? – Zuzutrauen war es ihr
schon.
Toni starrte noch immer auf
die Stelle, an der sich davor der unscheinbare Vogel befunden hatte. Mili fuhr
ihm mit ihrer geschmeidigen Hand über die Augen und lenkte damit seine
Aufmerksamkeit auf sich. Sofort vergaß er alles und fiel in Liebestaumel mit
ihr. Daraus erwachte er erst, als Mili sich aufrichtete, den Kopf gegen die
getäfelte Wand lehnte und zu erzählen begann. Von Tommy, unserem Sorgenkind,
dem Journalisten übel mitspielten. AS
Schlussendlich zog er doch in das Haus, das man ihm schon vor
längerem angeboten hatte. Es war für Menschen, die arbeiteten, ohne dabei Geld
zu verdienen, gestiftet worden. Doch es hieß, dass es in irgendeiner Weise
kontaminiert sei und folglich dem Bewohner schaden könnte. Vorsichtshalber war
er dann in den Schuppen nahe der Schlucht gezogen. Das war damals gewesen, als man
ihm mitteilte, dass der große Schriftsteller gestorben war. Da das Leben in
einem Schuppen, ohne fließend Wasser, zu kompliziert gewesen war, hatte Tommy
dem Drängen seiner Schwester nachgegeben und war zu ihr ins Haus gezogen. Auch
als er später den Briefumschlag mit dem Geld gefunden hatte, war er trotzdem bei
Jella geblieben. Erst als es im Schulort Balken regnete und er fliehen musste,
fiel ihm dieses Haus wieder ein. Es stand noch immer leer.
An dieser Stelle geschah
etwas, das Toni selten tat, er unterbrach Mili. „Was war da mit den Balken im
Schulort?“, fragte er.
„Hab ich‘s dir nicht
erzählt, wie es im Schulort Balken regnete?“
„Nein. Die letzte
Geschichte von Tommy war die, als er mit Paul ins Arsenal ging und im Spiegel
ein Holzbein sah.“
„Auch nicht, wie er an
seinen ‚Freunden‘ plötzlich ein Wolfsgesicht entdeckte?“
„Nein.“
„Ach, dann fehlt dir eine,
wenn nicht sogar zwei Geschichten.“ Sie schien zu überlegen, ob sie umschwenke,
sagte dann aber. „Die kann ich später mal nachholen. Jetzt möchte ich
berichten, wo Tommy schließlich gelandet ist. Er hat es sogar geschafft ins
Fernsehen zu kommen. Wenn auch nicht gerade zu seinen Gunsten.“
Toni nickte und Mili fuhr
fort.
Vom Schulort war er zu einem Bekannten und dessen Frau
geflüchtet. Zwei Monate hielt er sich bei den Rasts auf. Sie verdienten ihr
Geld mit Kieshandel und wohnten in der Kiesgrube. Vor schroffen Wänden türmten
sich Haufen von gebrochenen Steinen in allen Variationen auf, von groben
Kieseln bis zu feinstem Sand. Neben den Siebanlagen standen riesige Bagger und
Lastwagen. Tommy fühlte sich in dieser staubigen, mineralischen Welt nicht
zuhause und außerdem war es ihm dort zu abgeschieden. Manfred verschaffte
seinem Leben etwas Spannung, indem er ab und zu in die Stadt ging und sich im
Rotlicht-Milieu herumtrieb. Nicht gerade nach Tommys Geschmack. In diesen zwei
Monaten grübelte er viel. Da fiel ihm das belastete Haus wieder ein, das man
ihm damals angeboten hatte. Nachdem er nur knapp einem herunterstürzenden
Balken entgangen war, schien ihm das bisschen Kontamination, von dem er nicht
mal wusste, um was für eine Verseuchung es sich handelte, vernachlässigbar.
Das Haus war gar nicht schlecht gelegen. Es stand in einer Reihe
über einer Stadtstraße, wie im Kino die erste Reihe über dem Quergang. Er
wusste nicht, warum es gemieden wurde. Vom Balkon aus konnte man über die
Dächer der anderen Häuser blicken. Es war einfach eingerichtet. Aber das Dach
war dicht. Er lieh sich einen Wagen und holte bei Jella seine Matratze und sein
Bettzeug ab. Es fiel ihm nicht leicht, ihr sein Wegbleiben und den Auszug zu
erklären, da er sie nicht in die Sache mit den gewandelten Freunden eingeweiht
hatte. Aber sie spürte, dass er in Not war und steckte ihm etwas Geld zu. Davon
kaufte er sich eine Gasflasche und Vorräte zum Essen. Er lebte noch immer nach
dem Motto seiner Firma: Wenn wir erst den Durchbruch schaffen, werden wir doppelt
so viel verdienen wie die anderen. Dieser Spruch verbreitete eine Aufbruchsstimmung,
die allen, die daran glaubten eine Art ewige Jugend verlieh. Abends setzte er
sich auf den Balkon. Wenn eine besonders schöne Abendstimmung herrschte, vergaß
er manchmal den Verjüngungsspruch und glaubte an das andere Extrem, nämlich,
dass sein Leben in Auflösung begriffen sei. Und er war nicht mal unglücklich dabei.
Eines Tages klingelte es an seiner Tür. Vier mit Kameras und
Mikrofonen bewaffnete Journalisten standen vor der Tür.
Sie begrüßten ihn mit dem Ruf: „Endlich wagt es wieder jemand, in
diesem Haus zu wohnen. Dürfen wir reinkommen?“
Er nickte und ging ihnen voran in das Wohnzimmer. MLF
…
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