Als Toni nachts aufwachte,
erkannte er Mili im Halbdunkel. Sie kam auf ihn zu und zog ihn an sich. Sie
vereinigten sich voller Lust. Anschließend erzählte Mili ihre Geschichte. AS
Am Morgen geriet er in Auseinandersetzung mit Ruben, der in
unveränderter Form weitergrub und das aufgespürte Fleisch in ein weiteres Segment
des riesigen raupenartigen Körpers verwandelte – das fünfundfünfzigste.
„Ich hab‘s dir gesagt, das ist die letzte Erweiterung der Halle
gewesen“, rief Jasmus in die Grube hinab. „Wenn du willst, kannst du jenseits
dieser Wand im Freien fortfahren, von mir aus auch wieder ein Zelt aufstellen,
aber die Halle bleibt wie sie ist.“
Ruben wurde sichtlich nervös, aber er unterbrach seine Arbeit
nicht. Es war eine richtige Sucht. Jasmus hatte ihn ja auch zu Freunden sagen
hören, ‚wenn ich nicht täglich mein Raupensegment bilden kann, fühle ich mich nicht
gut‘.
Er lehnte sich an einen Pfosten der Außenwand und stützte den Arm
auf den Querbalken. Wie könnte ich Ruben helfen, die Arbeit in eine neue Phase
überzuführen?, fragte er sich. Wenn er bei der Arbeit war, konnte man ihn nicht
ansprechen. Er musste ihn mal in einer freien Minute erwischen. Jasmus löste
sich von der Wand. An das Loch tretend rief er: „Draußen im Freien – die Halle
wird nicht mehr erweitert! Ist das klar?“
Die Antwort war ein Brummen.
Auf dem Heimweg ging er in einen Laden. Er lief zwischen den
Regalen und konnte sich nicht konzentrieren. Möglichst heute Abend sollte ich
mit Ruben reden, sagte er sich. Am besten einen Freund mitnehmen. Und Ruben in
Ruhe auf die nötige Verwandlung ansprechen. Aber das ging nicht, diesen Abend
hatte er etwas anderes vor. Er füllte den Einkaufskorb, bezahlte und fuhr nach Hause.
Zuerst versorgte er die Blumen. Dann setzte er sich in der Küche
an die Theke.
Er hatte für diesen Abend die Freunde von der Reisegruppe zu
einem Abschiedstreffen im Restaurant Kreuz eingeladen. Dies hatte er
organisiert, nachdem er vorige Woche Gila im Treppenhaus getroffen hatte.
„Na, wie sieht’s aus, Gila?“, hatte er sie gefragt. „Bald mal wieder
Lust auf eine Reise?“
Sie gefror gleichsam. Auch wenn sie stumm geblieben wäre, hätte
er doch Bescheid gewusst. „Keine Fahrten mehr“, sagte sie knapp und wiegte den
Kopf.
„Wieso denn?“, bohrte er nach.
„Diese Übersetzungen vom Englischen ins Französische, du kannst
dir das nicht vorstellen. Das sind zwei völlig andere Welten. Es ist, als
müsstest du, was eine Amsel flötet einem Hasen verständlich machen.“
„Schade“, hatte er geantwortet.
Nachher hatte er an derselben Stelle gesessen wie jetzt. Und
hatte sich überlegt: Wenn Gila nicht mehr reisen wollte, machte es für ihn auch
keinen Sinn mehr, an den Treffen teilzunehmen, bei denen die Reisen besprochen
wurden. Komischerweise war er eher erleichtert als bedrückt. Manches störte ihn
inzwischen an dieser Gruppe. Jeder bevorzugte das Land, in dem er zuletzt
gereist war. Man versuchte, die andern zu den gleichen Fahrten zu animieren. Es
war nicht mehr ein Austausch über ganz unterschiedliche Reisen. Ihm ging es ja
im Grunde genauso. Mit seiner Begeisterung für Japan hatte er die andern nie
erreichen können. Trotzdem musste er dem Abschied eine gewisse Form geben.
Deshalb entschloss er sich, die Freunde ins Restaurant Kreuz zu einem
Abschiedstreffen einzuladen.
Mit bei der Feier war Tamura, ein Japaner. Als Jasmus ihn
kennenlernte, hatte er ihm von ihren Reisen nach Nippon erzählt. Seither waren
sie befreundet. Als sie im Gasthof gegen später nur noch zu viert waren, bat er
Tamura eine Komposition seines liebsten japanischen Musikers aufzulegen. Tamura
hatte das Werk ‚Der Norwegerin Lächeln‘ dabei. Sie beide lauschten dieser
großartigen Komposition. Jeder Abschnitt war ein Klangwunder. Keine Misstöne,
keine Unstimmigkeiten, trotz der großen Komplexität.
Während sich Jasmus mit Tamura austauschte, spürte er, wie die
beiden aus der Gruppe, Amwald und Holzstock sie misstrauisch betrachteten. Er
spürte Eifersucht. Das verstand er nicht. Sie mussten doch diese Musik auch
schätzen.
„Wie alt ist diese Komposition?“, fragte er Tamura.
Dieser lehnte sich zurück und überlegte. „‚Der Norwegerin
Lächeln‘ hat er vor fünfundzwanzig Jahren komponiert. ‚Jimmy ging über den
Regenbogen‘ ist vor zehn Jahren entstanden.“
Jasmus konnte sich an dieser Musik nicht satt hören.
Amwald und Holzstock fragten, was das sei. Da antwortete er,
dieses Stück sei fünfundzwanzig Jahre alt und der gleiche habe ‚Jimmy ging über
den Regenbogen‘ komponiert. Er überlegte. Diese Werke verkauften sich auch
heute noch. Gewiss konnte der Komponist gut davon leben.
Irgendwie kam Jasmus auf Ruben zu sprechen. „Dieser Komponist hat
was, das Ruben fehlt“, sagte er.
„Wer ist Ruben?“, fragte Tamura.
„Hab ich dir noch nicht von ihm erzählt?“, fragte Jasmus. „Der
Künstler, der diese große Ausgrabung macht. Ich baue für ihn die Halle.“ Er
überlegte kurz, ob er davon sprechen sollte, aber dann brach es aus ihm raus. „Wir
haben uns heute Morgen gestritten. Ich habe ihm bei der letzten Erweiterung
gesagt, dass es die letzte sei. Die Halle hat jetzt eine Länge von hundertzehn
Meter. Kannst du dir das vorstellen? – Hundertzehn Meter.
Tamura schaute ihn an, ohne zu antworten.
Jasmus fuhr fort. „Es ist ja faszinierend, was er in seiner
unermüdlichen Art zum Vorschein bringt. Aber mir scheint, je mehr es wird, umso
abschreckender wird sein Projekt für die Journalisten. Sie schauen schon gar
nicht mehr hin, was er ans Licht befördert, sondern nennen nur noch die
Superlative und sagen, ein Verrückter sei am Werk, ein Künstler im
Schaffensrausch – ohne Sinn und Verstand. Das Schlimmste ist, sie haben nicht
ganz Unrecht.“
Plötzlich hatte Jasmus eine Idee. „Wir könnten Ruben anrufen.“ Er
schaute auf die Uhr. „Schon zwölf. Vielleicht geht er doch noch dran. Probieren
wir’s.“
Er nahm sein Handy, blätterte und wählte.
„Hallo Ruben.“
Durch den Hörer war eine tiefe Stimme zu vernehmen. Jasmus
schwieg eine Weile. Dann sagte er. „Höre Ruben, ich hab hier einen Freund,
einen Japaner. Ein Kenner der Musik dieses Japaners, von dem ich dir schon
erzählt habe. Hast du nicht Lust, dich noch etwas zu uns zu gesellen. Er hat
CDs dabei. Wir brechen jetzt hier im Restaurant Kreuz auf und werden gleich bei
mir zu Hause sein.“ Wieder trat eine längere Pause ein. „Ich habe dir doch
gesagt, du sollst aufhören.“ Und nach einer Pause. „Also bis gleich.“
„Er kommt“, sagte Jasmus zu Tamura. „Erst war er nicht
begeistert. Seine Stimme klang dunkel. Wohl hatte er zwei, drei Bier getrunken.
Er müsse morgen früh an die Arbeit. Das hab ich ihm gleich mal ausgeredet. – Vielleicht
können wir ihn dazu anhalten, in eine neue Arbeitsphase zu treten.“
Ruben war ebenso begeistert von dieser Musik wie sie beide. Trotz
der schweren Lidern und der noch schwereren Zunge, blitzten seine Augen. „Ich
habe da eine Idee“, sagte er und lachte in sich hinein. Vielleicht lassen sich diesem
Raupenungetüm ja ein paar Schmetterlinge entzaubern.“ MLF
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