Toni verirrte sich im Wald.
Da er dort meistens spannende Dinge erlebte, fürchtete er sich nicht, sondern
war gespannt, was ihm zustoßen würde. Er gelangte zu einer Senke und blickte
auf ein Wasser, in dem sich das Mondlicht spiegelte. Als er sich durch das hohe
Gras dem Ufer näherte, sah er, dass um den Teich herum viele Menschen lagen mit
schöner, schwarzer Haut. Sie schienen zu schlafen. Da die meisten von ihnen
nackt waren, genierte er sich nicht, zog sich aus und watete ins Wasser. Es war
ein ganz besonderes Wasser. Die einzelnen Tropfen schienen wie Finger geformt
zu sein. Sie berührten jeden Punkt seiner Haut und erregten ihn überall. Da
bedauerte er, alleine im Wasser zu sein. Als hätte sein Gedanke eine der am
Strand liegenden Personen geweckt, erhob sich eine schwarze Frau und kam wie
eine schwankende Palme mit reifen Früchten auf ihn zu. Sie nahm ihn an der Hand
und führte ihn an den Strand auf ihr Tuch. Es bestand kein Zweifel, was sie
wünschte. „Werden die andern nicht aufwachen, wenn wir uns lieben?“, fragte er
sie flüsternd. Aber wer aufwachte, war Toni selber.
Neben ihm auf dem Betttuch
lag Mili, in der gleichen Haltung wie die Frau am Teich. Mili war genauso
erregt wie er. Er drang in sie ein und sie liebten sich solange, bis Mili
schließlich einfiel, dass sie noch ihre Geschichte zu erzählen hatte. Sanft
drängte sie ihn, der noch immer fest war, aus sich raus, bettete sich hoch und
begann mit pflichtbewusster Miene zu berichten. AS
Als Oppermann ihm empfahl, den festen Wohnsitz für einige Zeit
aufzugeben, glaubte er auf diese Weise seinen Horizont erweitern zu können. Das
fanden auch viele Freunde, ihr Tenor war, „je mehr du erfährst, umso freier
wirst du sein.“ Manche waren sogar neidisch, sie schienen die unstete
Lebensweise für ein Privileg zu halten. Aber Mark widerfuhr, was er schon
während des Studiums und in der Wissenschaft hatte hinnehmen müssen, dass mit
jedem neuen Gebiet auch der Bereich des Unbekannten zunahm. Klar, es war ja
immer nur eine Stadt von vielen Städten, die er kennenlernte und in dieser
einen Stadt wiederum nur ein, zwei Häuser von den Hunderten. Das Unbekannte
wuchs schneller, als das Bekannte. Ja es potenzierte sich geradezu. Aber das war
nicht sein eigentliches Problem. Etwas Bescheidenheit half ihm, sich mit dem zu
begnügen, was er sich erschließen konnte. Mit dieser Beschränkung wäre er gut
zurecht gekommen. Da war etwas anderes, das ihm mehr zu schaffen machte.
Mark strebte als Fahrender nicht nur neue Ziele an, sondern
suchte auch vertraute Plätze wieder auf. Dabei geriet er im vermeintlich
bekannten Terrain wiederholt auf ungesicherte Stellen, die wie Löcher in der
Piste sein Fortkommen behinderten. Fragen, die er sich früher gestellt hatte,
die er aber nicht hatte lösen können, taten sich jetzt als Abgründe auf. Er
wurde, könnte man sagen, mit dem Unbekannten im Bekannten konfrontiert. Solange
er in den eigenen vier Wänden gelebt hatte, mit Arbeit und Familie und einer
Fülle von alltäglichen Freuden und Kümmernissen, war er davor geschützt
gewesen. Im Haus gab es einen Keller und einen Dachboden, beide mit vielen
Ecken, in die man so manches stecken konnte. In seinem Fahrzeug fehlten diese
Verstecke. Es bedurfte des Unterwegsseins, um ihm ins Bewusstsein zu heben, wie
viele Dinge er verdrängt hatte.
Als Mark bei Baumeisters in Heimen Station gemacht hatte und
anschließend mit Tamura den Campus aufsuchte, fiel ihm der Vorfall mit Abasis
kleiner Schwester wieder ein. Er war auf eines dieser gefährlichen Fragezeichen
gestoßen und spürte sofort Schmerzen im Brustbereich. Seit Jahren hatte er
nicht an diesen Vorfall gedacht. Dieser hatte die ganze Zeit ungelöst in einer
Ecke gelegen. Er hatte zwar hin und wieder an Abasi gedacht und bedauert, dass
er damals so wenig Zeit für ihn gehabt hatte, weil er dem Studium immer
Priorität eingeräumt hatte. Die tote Schwester dagegen hatte er ganz verdrängt.
Aber jetzt wurde in seiner Mitte und im Kopf auf Hochtouren gearbeitet. Es ging
in ihm zu wie in einem Labor, in das gefährliche Keime geliefert worden waren.
Testkulturen wurden angelegt, in verschiedenen Anordnungen gestartet, um den
Schädling anhand der Reaktionen, die er erzeugte, zu bestimmen.
Sein sinnlicher Freund und potentieller Geliebter war schwarz
gewesen. Deshalb hatte ihn Mark von Beginn an für einen Afrikaner gehalten. Er
hatte dies bei ihrer allerersten Begegnung so festgehalten und diese Annahme
nicht mehr in Frage gestellt. Deshalb war er auch nie auf die Idee gekommen, Abasi
zu Hause zu besuchen. Afrika war zu weit weg. Er hielt die Lebensweise dort, mit
der extremen Temperatur, der einfachen Ernährung und der fremdartigen,
gutturalen Sprache für so gegensätzlich zu der seinen, dass er eine Reise
dorthin gar nicht in Erwägung gezogen hatte.
Doch jetzt erinnerte er sich, wie Abasi mehrmals gesagt hatte, er
wäre bei den Seinen gewesen. Das war ein Widerspruch, der ihm damals nicht
aufgefallen war. Er sei bei den Seinen
gewesen. Dabei hatten nie mehr als zwei Tage, manchmal sogar nur ein Tag
oder gar nur eine Nacht dazwischen gelegen. Abasi, als schwarzer Student, mit
noch weniger Geld, als die Mehrheit der Studenten sowieso. Trotzdem war Mark
immer davon ausgegangen, dass Abasi in Afrika gewesen sei. Wie er sich das
vorgestellt hatte, ob er an last minute Flüge oder Billig-Flüge gedacht hatte,
wusste er selber nicht. Komisch, während der ganzen Zeit an der Uni war er zum
exakten Arbeiten angehalten worden. Im Privaten dagegen hatte er sich einen
solchen Widerspruch geleistet. Ein mittelloser, schwarzer Student, sollte des
Öfteren (mindestens ein bis zwei Mal monatlich) seine Verwandten in Afrika
besucht haben. Undenkbar.
Jetzt, da er die Sache aufgrund gewisser Entdeckungen, die er als
Fahrender gemacht hatte, neu betrachtete, war Mark plötzlich klar, Abasi konnte
nicht nach Afrika geflogen sein. Er stammte gar nicht aus Afrika. Andererseits
war Abasi schwarz und er war sinnlich und von einem so elastischen Gemüt, dass
er den Tod seiner kleinen Schwester mit der Zerstörung eines Werbegeschenks auszubalancieren
vermocht hatte. Wieso hatte Mark damals geglaubt, dass Abasi Afrikaner sei? Dafür
gab es nur eine Antwort: Weil es gar keine andere Möglichkeit gegeben hatte.
Der Ort, von dem Abasi herstammte, hatte nicht in seinem Bewusstseinsfeld gelegen.
Oder besser gesagt, er hatte sich nicht in dem Bereich seines Bewusstseins, der
erhellt und ihm also zugänglich war, befunden. MLF
…
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