Montag, 14. Mai 2012

51 Zandsch-Siedlung im Wald i

Toni verirrte sich im Wald. Da er dort meistens spannende Dinge erlebte, fürchtete er sich nicht, sondern war gespannt, was ihm zustoßen würde. Er gelangte zu einer Senke und blickte auf ein Wasser, in dem sich das Mondlicht spiegelte. Als er sich durch das hohe Gras dem Ufer näherte, sah er, dass um den Teich herum viele Menschen lagen mit schöner, schwarzer Haut. Sie schienen zu schlafen. Da die meisten von ihnen nackt waren, genierte er sich nicht, zog sich aus und watete ins Wasser. Es war ein ganz besonderes Wasser. Die einzelnen Tropfen schienen wie Finger geformt zu sein. Sie berührten jeden Punkt seiner Haut und erregten ihn überall. Da bedauerte er, alleine im Wasser zu sein. Als hätte sein Gedanke eine der am Strand liegenden Personen geweckt, erhob sich eine schwarze Frau und kam wie eine schwankende Palme mit reifen Früchten auf ihn zu. Sie nahm ihn an der Hand und führte ihn an den Strand auf ihr Tuch. Es bestand kein Zweifel, was sie wünschte. „Werden die andern nicht aufwachen, wenn wir uns lieben?“, fragte er sie flüsternd. Aber wer aufwachte, war Toni selber.
Neben ihm auf dem Betttuch lag Mili, in der gleichen Haltung wie die Frau am Teich. Mili war genauso erregt wie er. Er drang in sie ein und sie liebten sich solange, bis Mili schließlich einfiel, dass sie noch ihre Geschichte zu erzählen hatte. Sanft drängte sie ihn, der noch immer fest war, aus sich raus, bettete sich hoch und begann mit pflichtbewusster Miene zu berichten. AS

Als Oppermann ihm empfahl, den festen Wohnsitz für einige Zeit aufzugeben, glaubte er auf diese Weise seinen Horizont erweitern zu können. Das fanden auch viele Freunde, ihr Tenor war, „je mehr du erfährst, umso freier wirst du sein.“ Manche waren sogar neidisch, sie schienen die unstete Lebensweise für ein Privileg zu halten. Aber Mark widerfuhr, was er schon während des Studiums und in der Wissenschaft hatte hinnehmen müssen, dass mit jedem neuen Gebiet auch der Bereich des Unbekannten zunahm. Klar, es war ja immer nur eine Stadt von vielen Städten, die er kennenlernte und in dieser einen Stadt wiederum nur ein, zwei Häuser von den Hunderten. Das Unbekannte wuchs schneller, als das Bekannte. Ja es potenzierte sich geradezu. Aber das war nicht sein eigentliches Problem. Etwas Bescheidenheit half ihm, sich mit dem zu begnügen, was er sich erschließen konnte. Mit dieser Beschränkung wäre er gut zurecht gekommen. Da war etwas anderes, das ihm mehr zu schaffen machte.
Mark strebte als Fahrender nicht nur neue Ziele an, sondern suchte auch vertraute Plätze wieder auf. Dabei geriet er im vermeintlich bekannten Terrain wiederholt auf ungesicherte Stellen, die wie Löcher in der Piste sein Fortkommen behinderten. Fragen, die er sich früher gestellt hatte, die er aber nicht hatte lösen können, taten sich jetzt als Abgründe auf. Er wurde, könnte man sagen, mit dem Unbekannten im Bekannten konfrontiert. Solange er in den eigenen vier Wänden gelebt hatte, mit Arbeit und Familie und einer Fülle von alltäglichen Freuden und Kümmernissen, war er davor geschützt gewesen. Im Haus gab es einen Keller und einen Dachboden, beide mit vielen Ecken, in die man so manches stecken konnte. In seinem Fahrzeug fehlten diese Verstecke. Es bedurfte des Unterwegsseins, um ihm ins Bewusstsein zu heben, wie viele Dinge er verdrängt hatte.

Als Mark bei Baumeisters in Heimen Station gemacht hatte und anschließend mit Tamura den Campus aufsuchte, fiel ihm der Vorfall mit Abasis kleiner Schwester wieder ein. Er war auf eines dieser gefährlichen Fragezeichen gestoßen und spürte sofort Schmerzen im Brustbereich. Seit Jahren hatte er nicht an diesen Vorfall gedacht. Dieser hatte die ganze Zeit ungelöst in einer Ecke gelegen. Er hatte zwar hin und wieder an Abasi gedacht und bedauert, dass er damals so wenig Zeit für ihn gehabt hatte, weil er dem Studium immer Priorität eingeräumt hatte. Die tote Schwester dagegen hatte er ganz verdrängt. Aber jetzt wurde in seiner Mitte und im Kopf auf Hochtouren gearbeitet. Es ging in ihm zu wie in einem Labor, in das gefährliche Keime geliefert worden waren. Testkulturen wurden angelegt, in verschiedenen Anordnungen gestartet, um den Schädling anhand der Reaktionen, die er erzeugte, zu bestimmen.
Sein sinnlicher Freund und potentieller Geliebter war schwarz gewesen. Deshalb hatte ihn Mark von Beginn an für einen Afrikaner gehalten. Er hatte dies bei ihrer allerersten Begegnung so festgehalten und diese Annahme nicht mehr in Frage gestellt. Deshalb war er auch nie auf die Idee gekommen, Abasi zu Hause zu besuchen. Afrika war zu weit weg. Er hielt die Lebensweise dort, mit der extremen Temperatur, der einfachen Ernährung und der fremdartigen, gutturalen Sprache für so gegensätzlich zu der seinen, dass er eine Reise dorthin gar nicht in Erwägung gezogen hatte.
Doch jetzt erinnerte er sich, wie Abasi mehrmals gesagt hatte, er wäre bei den Seinen gewesen. Das war ein Widerspruch, der ihm damals nicht aufgefallen war. Er sei bei den Seinen gewesen. Dabei hatten nie mehr als zwei Tage, manchmal sogar nur ein Tag oder gar nur eine Nacht dazwischen gelegen. Abasi, als schwarzer Student, mit noch weniger Geld, als die Mehrheit der Studenten sowieso. Trotzdem war Mark immer davon ausgegangen, dass Abasi in Afrika gewesen sei. Wie er sich das vorgestellt hatte, ob er an last minute Flüge oder Billig-Flüge gedacht hatte, wusste er selber nicht. Komisch, während der ganzen Zeit an der Uni war er zum exakten Arbeiten angehalten worden. Im Privaten dagegen hatte er sich einen solchen Widerspruch geleistet. Ein mittelloser, schwarzer Student, sollte des Öfteren (mindestens ein bis zwei Mal monatlich) seine Verwandten in Afrika besucht haben. Undenkbar.
Jetzt, da er die Sache aufgrund gewisser Entdeckungen, die er als Fahrender gemacht hatte, neu betrachtete, war Mark plötzlich klar, Abasi konnte nicht nach Afrika geflogen sein. Er stammte gar nicht aus Afrika. Andererseits war Abasi schwarz und er war sinnlich und von einem so elastischen Gemüt, dass er den Tod seiner kleinen Schwester mit der Zerstörung eines Werbegeschenks auszubalancieren vermocht hatte. Wieso hatte Mark damals geglaubt, dass Abasi Afrikaner sei? Dafür gab es nur eine Antwort: Weil es gar keine andere Möglichkeit gegeben hatte. Der Ort, von dem Abasi herstammte, hatte nicht in seinem Bewusstseinsfeld gelegen. Oder besser gesagt, er hatte sich nicht in dem Bereich seines Bewusstseins, der erhellt und ihm also zugänglich war, befunden. MLF

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