Dienstag, 8. Mai 2012

47 Sie fährt nicht mehr LKW


Als Toni aufwacht, brennt das Licht. Er ist beim Lesen eingeschlafen. Sofort greift er wieder nach dem Buch und sucht die Stelle, wo er den Faden verloren hat. Als er diesen gerade zu fassen kriegt, spürt er einen nackten Schenkel an seinem Bein. Überrascht schaut er auf und sieht Mili, die auf ihn wartet. Schnell legt er sein Buch zur Seite und nähert sich ihrem Mund. Die Oberlippe ist geschürzt, sie schmollt. Er liebkost sie an den Armen,  am Hals und dann die Brüste. Dabei entspannt sie sich und beginnt ihn zu necken. Bald verstricken sie sich in einem heftigen Liebesspiel.
Mili liegt schon auf dem Kissen, als sie nochmal runterrutscht, ihren Arm über seinen feuchten Oberkörper streckt und das Buch ergreift. Lässig lässt sie’s durch den Raum segeln, mit flatternden Seiten. Es landet zielgenau im Papierkorb. Ohne dass sie ein Wort sagt, weiß er jetzt, was sie von Büchern hält. Sie blickt ihn an und beginnt mit ihrer Geschichte. AS

Er geht in den Buchladen, der auch LKWs verleiht. Ziel Südschweden, sechs Tage – ein, zwei Tage Verlängerung sollten möglich sein. „Kennen Sie sich mit den Fähren aus? Welche Linie ist die günstigste?“
„Vertrauen Sie einfach dem integrierten Navigationssystem, dann können Sie nichts falsch machen.“
Erst jetzt gesteht Jasmus, dass er nicht selber fahren wird, sondern eine Freundin von ihm.
Der Buchhändler scheint geradezu erleichtert zu sein. Jasmus hat den Eindruck, er habe mit Frauen bessere Erfahrungen gemacht, als mit Männern. Der Buchhändler verspricht, dass der LKW am Abend vor seinem Haus stehen wird.
Gila wohnt ein Stockwerk über Jasmus. Wenn sie das Gefährt sieht, wird sie zu ihm hinunterkommen. So war es bisher immer. Die meisten Reisen sind so zustande gekommen. Auf einer Fahrt durch England hat Gila ihm aus den Schicksalen der englischen Könige erzählt. Die so lebendig natürlich durch Vermittlung eines großen Dramatikers erhalten sind. Für die letzte Fahrt sind sie nach Kanada geflogen und sind dort in Ontario und Britisch Columbia unterwegs gewesen. Sie haben viele Menschen kennengelernt, ihre alltäglichen Probleme in scheinbar langweiligen Kleinstädten. Er hat über die Komplexität der Dinge in den Dingen gestaunt. Diese Menschen sind ganz nah an seine Mitte gerückt.
Drei Tage später. Der LKW steht noch immer vor dem Haus. Was ist mit Gila?, fragt er sich. Jetzt fällt ihm ein, wie sie reagierte, als er die Reise vorgeschlagen hat. Ihr Verhalten war nicht wie sonst. Sie hat ihn fragend angeschaut. Die übliche Begeisterung hat er nicht gespürt. Aber er hat erwartet, dass ihr Fieber erwachen würde, wenn der LKW erst vor dem Haus stand. Darauf hat er gezählt. Was ist los? Ich muss ganz einfach hochgehen und fragen, was Sache ist. Er zögert. Irgendwie fürchtet er, eine Absage zu erhalten, wenn er’s forciert. Bisher ist sie immer von sich aus gekommen.
Er setzt sich aufs Sofa, legt die Beine auf den Couchtisch. Fast am eindrücklichsten sind ihm die Reisen in die geschichtsträchtigen Gegenden in Erinnerung. Gila ist eine Meisterin, wenn es darum geht, ihn in andere Zeiten zu versetzen. So hat sie mit ihm die Gestade Griechenlands abgefahren. Sie haben den LKW stehen lassen und sind mit dem Boot zu den großen Schauplätzen gefahren. Von dem listigen Helden, der den entscheidenden Einfall für die Eroberung einer Stadt am Hellespont gehabt haben soll. Von ihm hat sie ein ganz anderes Bild gezeichnet, als er es vom Hörensagen kannte. In ihrer Version ging es keinesfalls um die Beschwörung der kühnen Ahnen und Heldenverehrung, sondern um eine genau kalkulierte Anklage gegen ihre vielfältigen Schwächen. Kriegerische Überfälle und Frauenraub gehörten zu ihren bevorzugten Beschäftigungen. Dagegen bot er sein ganzes Geschick auf. Prasserei, Eigennutz, Fremdenfeindlichkeit und vieles mehr klagte er an. Die unsichtbaren Mächte wurden nicht aus religiöser Verehrung so plastisch beschrieben, sondern um einen griffigen Hebel gegen die vielen menschlichen Schwächen zu haben. Er hielt seinen Landsleuten einen Spiegel vor und zeigte ihnen, was für Barbaren ihre Ahnen gewesen waren. Dieser Aufenthalt in Griechenland war großartig gewesen.
Aber auch das befremdende Schicksal eines jungen Mannes in Algerien hat ihn beeindruckt. Betäubt von der gleißenden Sonne ersticht er am Strand einen Fremden und landet dafür im Gefängnis. Gerichtsprozesse und schließlich die Hinrichtung folgen. Die Reise haben sie in Paris unterbrochen und haben einen Blick auf das Leben des Zeugen dort geworfen.
Was ist nur mit Gila los. Sie wird doch nicht schwächeln. Ohne sie kann er die Fahrt nach Schweden nicht unternehmen. Dabei hat er sich schon so auf diese Reise gefreut. Einen Lyriker möchte er treffen, der sich auf eine junge Asylantin eingelassen hat. Der seine täglichen Sorgen plötzlich in einem ganz anderen Umfeld gespiegelt sieht. Plötzlich ist er mit Menschen zusammen, die wirklich Not leiden. Da möchte Jasmus hin. Sowas möchte er auch erfahren.
Was ist plötzlich los mit ihr? Warum kommt Gila nicht?
Er geht hoch, klingelt.
Sie öffnet die Tür.
Hallo Gila.
Ja?
Du hast doch gesehen, was unten vor dem Haus steht? Oder nicht?
„Komm rein, Jasmus.“ Sie weist ihn aufs Sofa.
Er nimmt Platz.
„Magst du etwas trinken?“
„Nein danke.“ Er wartet.
Sie setzt sich, aber sagt nichts. Sie runzelt die Stirn. Er spürt ihr Bedauern.
„Und wie sieht’s am Wochenende aus?“, fragt er.
Ihre Miene ändert sich nicht.
„Aber du bist doch sonst immer gern mitgegangen.“
Sie hebt bedauernd die Schultern.
„Unsere gemeinsamen Fahrten zählen zum Schönsten, was ich erlebt habe. Ich dachte, für dich sei es ebenso gewesen.“
Kurz flammt ein Begeisterungsstrahl über ihr Gesicht. Aber die Züge werden sofort wieder ernst. „Das Problem ist – sie macht eine Pause – ich muss hier sein.“
„Warum musst du hier sein?“
Sie sucht nach einer Erklärung. Da fällt ihr Blick auf das Mobilteil auf dem Couchtisch. „Ich muss aufs Telefon achten – unter anderem“, stößt sie hervor. „Ich kann nicht gleichzeitig hier und woanders sein.“
Enttäuscht geht Jasmus nach unten.

Am nächsten Tag geht er wohl oder übel zum LKW-Verleih und bittet etwas kleinlaut, sie möchten den Transporter wieder abholen. Die Anzahlung kriegt er nicht zurück, aber er erhält einen Gutschein für eine andere Reise oder für Bücher seiner Wahl. Betröppelt steht er da und fragt sich, ob ihm dieser Gutschein noch etwas nützt, wenn Gila nicht mehr mitmacht? Aber dann gibt er sich einen Stoß und sagt sich: Dann wird’s halt ein Geschenk für ein befreundetes Paar. Er möchte diesen Gutschein möglichst schnell weghaben, weil er sich sonst allerlei vornehmen wird, wie diese Reise nach Schweden und doch enttäuscht wird.
Von der Ladentheke sticht ihm die Ankündigung einer Lesung ins Auge. ‚Fossilien des Aleph-Gebirges‘, Pedro Cielo. Das muss Pedro aus Brasilien sein. Fossilien sind nicht gerade Jasmus‘ Leidenschaft. Aber er würde gerne Pedro mal wieder sehen. Er beschließt dahin zu gehen. MLF

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