…
„Hast du etwas Zeit mitgebracht?“,
fragte Mark. „Komm doch rein.“
„Nur wenn ich nicht störe“,
entgegnete Tamura zögernd.
„Im Gegenteil“, sagte Mark, „aber
es ist etwas eng hier drin.“ Er klappte auf der andern Seite des Tischs eine
Sitzfläche runter und wies Tamura an, Platz zu nehmen.
Der setzte sich und drehte den
Kopf. „Man muss sich beschränken lernen, wenn man viel unterwegs ist“, bemerkte
er.
„Ja, anders geht es nicht“,
bestätigte Mark. „Anfangs hatte ich noch einen Wagen mit Büchern dranhängen.
Aber das war zu umständlich.“
„Ich habe das Gedicht mehrmals
gelesen“, hielt Tamura fest. „Mir scheint, es geht darin tatsächlich um eine
Wende, wie du sie beschrieben hast.“
„Meinst du wirklich?“, fragte
Mark überrascht. „Ich habe es oft singen hören. Sängerinnen mit dunkler Stimme
konnten sich bei dieser Art von Liedern ausleben, Lenja … Aber ich muss
zugeben, auf die Worte habe ich kaum geachtet. Irgendetwas von einem Klub in
dem es heiß herging, Kriminelle Machenschaften inklusive. Dann die Sanierung
des Schuppens. Und wie damit die Luft raus war. Das ist meine Erinnerung. ‚Totsaniert‘,
würde man heute sagen.“
Tamura hatte gespannt zugehört
und wartete, ob Mark noch was sagen wollte. Nach einer Pause ergriff er das
Wort. „Ein verruchtes Ballhaus, einst das schönste auf dem ganzen Kontinent.
Der Brandy war gut und die Liebe lohnte sich. Doch es wurde renoviert und auf
dezent gemacht, mit Palme und Eiscreme in ein ganz gewöhnliches Etablissement
verwandelt. In dem sich die Liebe nicht mehr lohnte. – Ist das nicht genau die Wende, wie du sie
beschrieben hast? Meines Erachtens besingt der Bilbao-Song genau einen solchen
Schwenk.“
Mark nickte. „Genau, darum
geht’s.“
„Aber wie ist das möglich?“,
fragte Tamura, für seine Art ungewöhnlich emotional. „Ich habe in mehreren
Lexika geschaut und im Internet, nirgends wird Bilbao in dieser Bedeutung
festgehalten.“
Mark konnte ein Lachen nicht unterdrücken.
„Das darf dich nicht wundern. Die Erlebnisse von Alice im Wunderland werden in
den Lexika auch nicht erklärt. Die Grinsekatze, die Raupe auf dem Pilz, die Herzkönigin.
Es wird nur erwähnt, dass sie in diesem Buch vorkommen, über ihre Bedeutung
erfährst du nichts.“
„Bei Carroll kann ich das ja
verstehen, schließlich handelt es sich um ein Wunderland“, wandte Tamura ein. „Aber
Brecht spricht doch von einem wirklichen Ballhaus.“
„Bist du da so sicher?“, fragte
Mark und schüttelte den Kopf. „Wo sollte es gestanden haben? In Bilbao, wie
basquepoetry.com annimmt? Ich glaube das ist ein Irrweg. Wer Carrolls
Wunderland als ein reines Nonsense-Land versteht, den wird diese Frage
natürlich nicht interessieren. Ich für mich finde, dass uns die Raupe einiges
über die Drogen sagt, mit dem was sie Alice zeigt.“
„Du glaubst, es handelt sich darin um
wirkliche Erfahrungen?“
Mark nickte. „Auf den Rat der
Raupe hin bricht Alice von beiden Seiten des Pilzes ein Stück ab. Nach dem
ersten Bissen schlägt ihr Kinn auf den Schuhen auf, nach dem zweiten erhebt sich
der Kopf über die Bäume. Schließlich lernt sie, von den beiden Hälften so zu
essen, dass sie die passende Größe hat.“
„Alice erfährt also körperlich,
wie sich das Bewusstsein verändert.“
So könnte man es ausdrücken,
bejahte Mark. Dann ließ er seinen Kopf nach vorne fallen. Nach einer Weile des
Grübelns sah er seinen Gesprächspartner wieder an und stieß hervor. „Aber
irgendetwas gefällt mir nicht an diesem Brecht-Song. Da steckt was vom
Wunderland drin – aber verzerrt. Ich würde mich gerne dem Text in Ruhe
zuwenden.“ Er fragte Tamura, ob er diesen Abend Zeit hätte, mit ihm etwas
trinken zu gehen. Am folgenden Morgen werde er weiterfahren.
Tamura zeigte sich bereit.
Am Abend, als Mark vom Rasieren
in den Uni-Toiletten zurückkam, wartete Tamura beim Wohnmobil. Sie liefen in
die Stadt hinunter und setzten sich auf die Terrasse einer der Gaststätten am
Fluss. Im Wasser glänzten die Lichter der gegenüber liegenden Gebäude und der
nahen Brücke. Obwohl Mark die Bewegung des Wassers nicht direkt sah,
vermittelte diese ihm das Gefühl, als trieben sie dahin. Eine schwimmende
Stadt, die sich auf ein unbestimmtes Ziel hin bewegte. Die Stechmücken
rüttelten ihn auf und erinnerten ihn daran, wo er war. Als sie einen Schluck getrunken
und ihr Bierglas wieder hingestellt hatten, stütze Tamura seine angewinkelten
Arme auf den Tisch und faltete die Hände. Er sah Mark auffordernd an.
„Es geht um die Frage, wie viel
Alice steckt in Brecht, nicht wahr?“, sagte dieser und schaute ihm in die
Augen.
Tamura nickte.
„Ich habe den Bilbao-Song näher
unter die Lupe genommen“, begann er. „Du liegst schon richtig, es handelt sich
tatsächlich um diesen Rechtsknick im Gebüsch, auf den auch ich gestoßen bin.“
Tamura antwortete erregter, als
es sonst seine Art war. „Ein ungeformter Zustand wird durch eine deutliche
Wende in einen konformen Zustand übergeführt. Und was dabei verloren geht, das
Bewegende in der Musik und die Echtheit der Gefühle.“
„Ja“, bestätigte Mark. „Und doch
gefällt mir etwas nicht. Hätte Brecht, statt eines Ballhauses sein Baalhaus
genommen, hätte er statt des kriminellen Milieus die anarchisch-sinnliche Welt
seines Baal gewählt, dann würde für mich an diesem Gedicht alles stimmen.“
„Denkst du, dass der Erfolg
seiner Bettleroper, die in der Welt der Gangster spielte, ihn dazu verleitet
hat?“, warf Tamura als Frage ein.
Mark trank einen Schluck und
bemerkte dann. „Dass sich der Sänger
nicht an die Lieder von damals erinnern kann, liegt meines Erachtens an dieser
Wisky-Prostituierten-Pistolen-Welt. In einer Baal-Welt könnten die Brownings
etwas ganz anderes bedeuten, als Schießeisen – etwas Lustvolles.“
„Was würdest du denn als
‚Nachgeborener‘ sagen“, fragte Tamura, „wie viel Alice steckt in Brecht?“
„Eine ganze Menge würde ich sagen.
Wenn man bedenkt, dass er ‚in die Städte kam zur Zeit der Unordnung. Als da
Hunger herrschte‘ und ‚die Straßen durch den Sumpf führten zu seiner Zeit‘“.
MLF
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