Montag, 21. Mai 2012

53 Alice in Brecht j

„Hast du etwas Zeit mitgebracht?“, fragte Mark. „Komm doch rein.“
„Nur wenn ich nicht störe“, entgegnete Tamura zögernd.
„Im Gegenteil“, sagte Mark, „aber es ist etwas eng hier drin.“ Er klappte auf der andern Seite des Tischs eine Sitzfläche runter und wies Tamura an, Platz zu nehmen.
Der setzte sich und drehte den Kopf. „Man muss sich beschränken lernen, wenn man viel unterwegs ist“, bemerkte er.
„Ja, anders geht es nicht“, bestätigte Mark. „Anfangs hatte ich noch einen Wagen mit Büchern dranhängen. Aber das war zu umständlich.“
„Ich habe das Gedicht mehrmals gelesen“, hielt Tamura fest. „Mir scheint, es geht darin tatsächlich um eine Wende, wie du sie beschrieben hast.“
„Meinst du wirklich?“, fragte Mark überrascht. „Ich habe es oft singen hören. Sängerinnen mit dunkler Stimme konnten sich bei dieser Art von Liedern ausleben, Lenja … Aber ich muss zugeben, auf die Worte habe ich kaum geachtet. Irgendetwas von einem Klub in dem es heiß herging, Kriminelle Machenschaften inklusive. Dann die Sanierung des Schuppens. Und wie damit die Luft raus war. Das ist meine Erinnerung. ‚Totsaniert‘, würde man heute sagen.“
Tamura hatte gespannt zugehört und wartete, ob Mark noch was sagen wollte. Nach einer Pause ergriff er das Wort. „Ein verruchtes Ballhaus, einst das schönste auf dem ganzen Kontinent. Der Brandy war gut und die Liebe lohnte sich. Doch es wurde renoviert und auf dezent gemacht, mit Palme und Eiscreme in ein ganz gewöhnliches Etablissement verwandelt. In dem sich die Liebe nicht mehr lohnte.  – Ist das nicht genau die Wende, wie du sie beschrieben hast? Meines Erachtens besingt der Bilbao-Song genau einen solchen Schwenk.“
Mark nickte. „Genau, darum geht’s.“
„Aber wie ist das möglich?“, fragte Tamura, für seine Art ungewöhnlich emotional. „Ich habe in mehreren Lexika geschaut und im Internet, nirgends wird Bilbao in dieser Bedeutung festgehalten.“
Mark konnte ein Lachen nicht unterdrücken. „Das darf dich nicht wundern. Die Erlebnisse von Alice im Wunderland werden in den Lexika auch nicht erklärt. Die Grinsekatze, die Raupe auf dem Pilz, die Herzkönigin. Es wird nur erwähnt, dass sie in diesem Buch vorkommen, über ihre Bedeutung erfährst du nichts.“
„Bei Carroll kann ich das ja verstehen, schließlich handelt es sich um ein Wunderland“, wandte Tamura ein. „Aber Brecht spricht doch von einem wirklichen Ballhaus.“
„Bist du da so sicher?“, fragte Mark und schüttelte den Kopf. „Wo sollte es gestanden haben? In Bilbao, wie basquepoetry.com annimmt? Ich glaube das ist ein Irrweg. Wer Carrolls Wunderland als ein reines Nonsense-Land versteht, den wird diese Frage natürlich nicht interessieren. Ich für mich finde, dass uns die Raupe einiges über die Drogen sagt, mit dem was sie Alice zeigt.“
 „Du glaubst, es handelt sich darin um wirkliche Erfahrungen?“
Mark nickte. „Auf den Rat der Raupe hin bricht Alice von beiden Seiten des Pilzes ein Stück ab. Nach dem ersten Bissen schlägt ihr Kinn auf den Schuhen auf, nach dem zweiten erhebt sich der Kopf über die Bäume. Schließlich lernt sie, von den beiden Hälften so zu essen, dass sie die passende Größe hat.“
„Alice erfährt also körperlich, wie sich das Bewusstsein verändert.“
So könnte man es ausdrücken, bejahte Mark. Dann ließ er seinen Kopf nach vorne fallen. Nach einer Weile des Grübelns sah er seinen Gesprächspartner wieder an und stieß hervor. „Aber irgendetwas gefällt mir nicht an diesem Brecht-Song. Da steckt was vom Wunderland drin – aber verzerrt. Ich würde mich gerne dem Text in Ruhe zuwenden.“ Er fragte Tamura, ob er diesen Abend Zeit hätte, mit ihm etwas trinken zu gehen. Am folgenden Morgen werde er weiterfahren.
Tamura zeigte sich bereit.

Am Abend, als Mark vom Rasieren in den Uni-Toiletten zurückkam, wartete Tamura beim Wohnmobil. Sie liefen in die Stadt hinunter und setzten sich auf die Terrasse einer der Gaststätten am Fluss. Im Wasser glänzten die Lichter der gegenüber liegenden Gebäude und der nahen Brücke. Obwohl Mark die Bewegung des Wassers nicht direkt sah, vermittelte diese ihm das Gefühl, als trieben sie dahin. Eine schwimmende Stadt, die sich auf ein unbestimmtes Ziel hin bewegte. Die Stechmücken rüttelten ihn auf und erinnerten ihn daran, wo er war. Als sie einen Schluck getrunken und ihr Bierglas wieder hingestellt hatten, stütze Tamura seine angewinkelten Arme auf den Tisch und faltete die Hände. Er sah Mark auffordernd an.
„Es geht um die Frage, wie viel Alice steckt in Brecht, nicht wahr?“, sagte dieser und schaute ihm in die Augen.
Tamura nickte.
„Ich habe den Bilbao-Song näher unter die Lupe genommen“, begann er. „Du liegst schon richtig, es handelt sich tatsächlich um diesen Rechtsknick im Gebüsch, auf den auch ich gestoßen bin.“
Tamura antwortete erregter, als es sonst seine Art war. „Ein ungeformter Zustand wird durch eine deutliche Wende in einen konformen Zustand übergeführt. Und was dabei verloren geht, das Bewegende in der Musik und die Echtheit der Gefühle.“
„Ja“, bestätigte Mark. „Und doch gefällt mir etwas nicht. Hätte Brecht, statt eines Ballhauses sein Baalhaus genommen, hätte er statt des kriminellen Milieus die anarchisch-sinnliche Welt seines Baal gewählt, dann würde für mich an diesem Gedicht alles stimmen.“
„Denkst du, dass der Erfolg seiner Bettleroper, die in der Welt der Gangster spielte, ihn dazu verleitet hat?“, warf Tamura als Frage ein.
Mark trank einen Schluck und bemerkte dann.  „Dass sich der Sänger nicht an die Lieder von damals erinnern kann, liegt meines Erachtens an dieser Wisky-Prostituierten-Pistolen-Welt. In einer Baal-Welt könnten die Brownings etwas ganz anderes bedeuten, als Schießeisen – etwas Lustvolles.“
„Was würdest du denn als ‚Nachgeborener‘ sagen“, fragte Tamura, „wie viel Alice steckt in Brecht?“
„Eine ganze Menge würde ich sagen. Wenn man bedenkt, dass er ‚in die Städte kam zur Zeit der Unordnung. Als da Hunger herrschte‘ und ‚die Straßen durch den Sumpf führten zu seiner Zeit‘“. MLF

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