Donnerstag, 12. April 2012

36 Gras im Rucksack i

Nach dem Liebesspiel glitt Mili auf dem Kissen nach oben und zog Toni rücklings auf ihren Bauch. Sein Gesäß kam zwischen ihre Beine und sein Kopf zwischen ihre Brüste zu liegen. Ihre noch feuchte Haut am Rücken spürend, trat ihm das Bild einer mexikanischen Malerin vor Augen, auf dem sie ihren Mann trägt und selber im Schoß einer großen Mutter ruht. Leicht entrückt, glaubte Toni im Schoß einer ebensolchen Mutter zu liegen. Erst als Mili ihre Stimme erhob, die von seinem Gewicht etwas gepresst war, vergegenwärtigte er sich, wo er lag. AS

Da war auch noch das Haus der Mutter, das außerhalb der Siedlung lag und oft leerstand, der Garten von einer dichten Hecke umschlossen. Gelegentlich blieb er über Nacht dort und schlief im Bett, in dem auch die Mutter lag, wenn sie dort war.
An jenem Abend war Mark früh zu Bett gegangen. Er hatte nichts Neues mehr anfangen wollen und keine Lust gehabt fernzusehen. Gegen Mitternacht wachte er auf. Sein Blick fiel auf die Stelle, wo der weiße Tisch gestanden hatte. Dieser war umgefallen – nein, nicht gefallen, sondern in sich zerfallen. Genau wie bei mir, in meiner Wohnung auch, stellte er verwundert fest. Zumindest ihren Tisch, nahm er sich vor, werde er wieder aufbauen. Er war sich aber nicht sicher, ob sie dies überhaupt wünschte. Dass sie ihn so sehr hatte verkommen lassen, musste ja einen Grund haben. Er stand auf und schlüpfte in Hemd und Hose. Als er durchs Fenster in den vom fahlen Mondlicht erhellten Garten schaute, bemerkte er hinter der Hecke eine Gestalt. Wer mochte sich mitten in der Nacht so nah am Haus der Mutter aufhalten?, fragte er sich und nahm sich vor, der Sache auf den Grund zu gehen. Durch die Terrassentür gelangte er nach draußen.
Wie er durch den von Büschen torartig umfassten Ausgang des Gartens kam, traf er auf einen Freund.
 „Franz, nanu. Was machst du hier?“
„Wir wollten dich besuchen. Aber da die Fenster dunkel waren, haben wir nicht gewagt zu klingeln.“
Das Gesicht seines Freundes war breiter geworden. Er wirkte gelassener, erdiger. Franz war in der Jungend sein Spielgefährte gewesen. In verschiedenen Lebensabschnitten hatten sie sich wieder getroffen und jedes Mal Neues miteinander auszutauschen gehabt.
„Was heißt ‚wir‘?“, fragte Mark.
Franz drehte sich gemächlich um und wies auf einen Mann, der nahe an der Straße im trockenen Gras lag.
„Oppermann? Was, der ist auch dabei?“
Franz drehte sich andersherum und zeigte auf einen Bus samt Anhänger. „Er wollte dir den Bus vorführen. Aber das Ganze hat sich verzögert. Du hast schon geschlafen. Deshalb haben wir uns entschlossen, dich erst am Morgen zu überraschen.“
Franz kaute Gras. Mark sah ihn verwundert an. „Probier, schmeckt gut“, sagte sein Freund einladend.
Mehr aus Höflichkeit nahm Mark an und schob sich ein paar Halme in den Mund. Er war überrascht, nicht diesen bitteren, eintönigen Geschmack von Gras zu schmecken – den wohl nur Kühe mögen – sondern vielseitige Empfindungen zu spüren. Er fing an, jedes Hälmchen einzeln zu kauen und bemerkte, dass keines wie das andere schmeckte.
„Wo hast du das her?“, fragte er Franz, der gegen die Gartenmauer gelehnt nachdenklich seine Kiefer mahlen ließ. „Das ist ja köstlich.“
„Gibt’s hier überall. Aber du musst es nachts pflücken. Sobald es hell wird, drängen die lichthungrigen Pflanzen nach vorne und du suchst vergeblich. Solche Kräuter kauen ist besser als jede Lektüre, findest du nicht?“
„Schmeckt wirklich super“, bestätigte Mark. Begriff aber nicht, wie sein Freund Kauen und Lesen vergleichen konnte. Er wollte nachts nicht zu viel essen. Um nicht ein anderes Mal durch eine solche Gewohnheit geweckt zu werden. Deshalb steckte er das restliche Gras in die Hosentasche.
Der Liegende am Straßenrand rührte sich und richtete sich auf. Als er Mark sah gewahr wurde, sagte er.
„Na, hast du gespürt, dass wir auf dich warten?“
Der Angesprochene überhörte die Frage und bewegte langsam den Kopf. „Wie kannst du im Freien schlafen, ohne Decke und so nah an der Straße?“
„Alles eine Frage der Übung und des Vertrauens“, sagte Oppermann. „Aber wenn du schon hier bist, so wirf doch einen Blick auf den Bus.“
Gemeinsam gingen sie zum Bus. Oppermann, der schon seit Langem Marks Berater war, hatte ihm empfohlen, den festen Wohnsitz aufzugeben und eine Zeitlang unterwegs zu sein. „Jeder Mensch sollte das mal erleben. Wenn nicht in der Jugend, dann halt später.“
Auf den Scheiben und den Zierleisten reflektierte sich der matte Schein des Mondlichts. Das Gefährt mit dem Anhänger schien Mark doch etwas ungelenk. „Ich kann mit einem Anhänger schlecht rückwärtsfahren“, gab er zu bedenken.
„Dann lass ihn doch weg“, warf Franz ein.
„Du brauchst ihn für die Bücher“, erklärte Oppermann. „Du kriegst sie nicht alle vorne rein. Oder hättest keinen Platz, dich darin aufzuhalten.“
„Verstehe, dann muss es wohl sein“, stimmte er zu. War aber von dieser Lösung nicht begeistert. Andererseits gefiel ihm der Gedanke, sich in einen Extraraum setzen zu können, wenn ihn die Lust zu lesen überkam.
„Kommt, jetzt gehen wir ins Haus“, lud Mark sie ein.
„Nein, nein, wir bleiben draußen.“
„Dann legt euch doch mindestens in den Bus“, bot er an.
Wollten sie auch nicht.
„Macht was ihr wollt. Ich bin müde.“ Mark begab sich ins Haus zurück.

War er eingeschlafen oder hatte er nur gedöst? Das mit dem Anhänger beschäftigte ihn. Wozu brauchte er die ganzen Bücher? Er hatte sich doch das Lesen schon so gut wie abgewöhnt. Mark spitzte die Ohren. Da waren Stimmen zu hören. MLF

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