Mittwoch, 4. April 2012

33 Mentor und Bettler i

Der Rollentausch hat Toni gefallen. Den ganzen Tag ist er wie auf einer Wolke gegangen. Am Abend denkt er, vielleicht wiederholt sie ja das Spiel. Aber was er in der Nacht dazwischen erlebt, bis er zu Mili findet, reibt ihn so auf, dass ihm das Wünschen vergeht.
Er stößt zu einer Pressekonferenz in einem Gerichtssaal. Ein Mann mit weißen Haaren wird von Journalisten umlagert. Sein Essay ‚Was gesagt werden muss‘ ist Streitthema. Es geht hoch her. Wenn Toni recht versteht, handelt es sich um ein brisantes politisches Thema. Doch plötzlich wenden sich die Anwesenden einem Bild zu, das ungelogen einen Hintern mit einem offenen Arschloch zeigt. Es ist, als seien sie plötzlich des trockenen subjects überdrüssig geworden und suchten nun ein schlüpfriges Thema, um ihre Klatschspalte zu füllen. Während sich Toni die Augen reibt, ob es sich auch wirklich um einen Popo handle, drehen sich die Anwesenden ihm zu und werfen ihm vor, dieses Bild in Umlauf gebracht zu haben. Er weiß nicht, ob er weinen oder lachen soll. Er kann diese Leute nicht ernst nehmen. Aber sie rücken ihm näher. Im Wechsel stoßen sie gellende Laute aus, wie eine Schar von Wölfen. Ein lautes Brüllen und diese Meute wird sich verziehen, glaubt er. Aber er steckt noch immer in dieser sanften, von Mili verursachten Wolke und bringt keinen Ton hervor.
Zitternd erwacht er im Bett. Mili, die ihn beobachtet haben muss, schließt ihn in die Arme und hält ihn, bis er sich beruhigt hat. Statt des Liebesakts bleibt es beim Kuscheln. Mili setzt die Geschichte vom Vortag fort. AS

Von der Berufsschule wird jemand gesucht, der die Berufsschüler bei der Gestaltung und Umwandlung ihrer Ausstellungsflächen am Kreuzberg betreut – ehrenamtlich. René meldet sich. Dass er neuerdings einen Rock trägt, stört die Schulleitung nicht. Einem ehrenamtlichen Mitarbeiter steht man eine solche Eigenwilligkeit zu. In der Gruppe reagieren die Schüler befremdet auf seine Kleidung, sobald sie aber mit ihm vor ihrer Parzelle stehen, ist sein Äußeres vergessen. Er sagt eigentlich nicht viel, lässt sie vielmehr selber reden. Weist auf bestehende Ordnungen hin, deutet an, wo einzelne Positionen noch zu schwach vertreten sind und andere zu viel Raum einnehmen. Wie durch Umgestaltung neue Schwerpunkte gesetzt werden können, etc. Der Schüler spürt, dass es um ihn geht und ist dankbar, dass der Mentor ihm mit gutem Gespür und viel Einfühlsamkeit beisteht. Bei einem der Schüler passiert etwas Besonderes. Obwohl sich seine Parzelle kaum von denen der anderen unterscheidet, dringen sie im Gespräch tiefer. Die Ausstellung ist plötzlich nicht mehr nur die Summe seiner Arbeiten, sondern es zeigen sich Spuren seiner Person. Der Schüler staunt.
„Mir ist, als sähe ich mich selbst hier ausgebreitet, ruft er aus. Ich sehe meine Vorlieben und meine Schwächen, was mir gelungen ist und wo ich Irrwege gegangen bin.“ René ist gerührt. Es ist ihm gelungen, was er anstrebt.
Am Mittag kriegt er in der Schulküche ein Essen. Danach setzt er sich meistens auf einen Stein vor das Schulgebäude und lehnt sich an die Wand. Einzelne Schüler kommen und suchen das Gespräch. Er hat ihre Parzellen genau vor Augen. Wenn nicht, helfen ein paar Details, dass er sie sich vergegenwärtigen kann. Hier hört er, wie der eine Schüler zu seiner Gruppe sagt.
„Hei, das war voll magisch. So habe ich mich davor noch nie gefühlt.“
Ein Schüler kauert neben René, als ein Reisebus zufährt. Aus den Augenwinkeln sieht René die Besucher aussteigen. Es ist nicht das erste Mal, dass eine Gruppe auf dem Schulhof ankommt. Ihr Ziel ist der Kreuzberg. Eine große Frau mit schwarzen Haaren löst sich aus der Gruppe der Besucher. Während der Schüler weggeht kommt sie näher. Erst als sie in zwei Metern Abstand vor ihm stehen bleibt, erkennt er sie. Christina, eine alte Bekannte, die sich im Ortsteil, in dem er früher gelebt hat, besonders engagiert hat.
„Bist du hier?“, fragt sie, als würde sie ihren Augen nicht trauen. „Sitzt du schon lange da?“ Ihre Stimme klingt nicht bloß erstaunt, sondern erschrocken.
Er will aufspringen und sie begrüßen. Doch ihm wird bewusst, dass das seiner neuen Rolle wohl nicht angemessen wäre. An ihrem Blick erkennt er, dass sie ihn für einen Sadhu (indischer Bettler und Mönch) hält. Um ihre Mutmaßung zu zerstreuen, erklärt er. „Ich habe gerade reichlich gegessen und sitze hier, um mich auszuruhen. Schüler nutzen die Gelegenheit und besprechen mit mir ihre Arbeiten.
„Ach so“, stammelt sie. Ganz überzeugt scheint sie nicht. Unschlüssig bleibt sie stehen, sucht nach Worten. Aber als ihre Gruppe sich in Bewegung setzt, verabschiedet sie sich und folgt ihnen.

Ein Tag, an dem die Schüler bei ihren Parzellen stehen, während Besuchern kommen, steht bevor. Ein Tag des offenen Kreuzberges sozusagen. Die ehrgeizigeren von den Schülern wollen den Gästen etwas zum Essen anbieten. MLF

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