Donnerstag, 26. April 2012

42 Reussbuhlen

In dieser Nacht kam ihm sein Bett sehr eng vor. Als Mili kam, glaubte er keinen Platz mehr zu haben, um sich drehen und wenden zu können. Er hatte in einem schönen, luftigen Traum die Weiten einer unbegrenzten Welt genossen. Ihre Nähe, ihre Hitze und ihre Sinnlichkeit waren ihm fast zu viel. Lieber hätte er gedöst und weiter seinem Traum nachgehangen.
Mili schien es zu spüren. Plötzlich erhob sie sich und war verschwunden. Er streckte sich und genoss die Freiheit. Aber dann erkannte er seinen Traum als bloßes Trugbild. Er sah Mili beim Fenster in ihrer vollen Schönheit. „Mili“, rief er, „verlass mich nicht!“ Sie kehrte zurück, schmiegte sich an ihn und sie feierten Réunion.
Anschließend erzählte sie einen weiteren Abschnitt der Geschichte von Bodo und Enrico. AS

Solange er in Reussbuhlen nur zu Besuch war, hatte er die Andersartigkeit dieser Welt nicht so stark empfunden wie jetzt, da er zu Enrico zog. Plötzlich war der Raum, den er seinen eigenen nannte, auf ein Drittel des vorigen geschrumpft. Zudem sah es Enrico ungern, wenn er sich in seinem Zimmerchen verschanzte.
Bodo hatte davor in einer mondänen Welt Zwischenstation gemacht. Ein Haus am See, Teil eines großen Parks. Die Nachbarn alle in Villen. Man traf sich, aß Kuchen und trank Kaffee aus zierlichem Porzellan und tauschte die neusten Mitteilungen der medial Begabten aus. Denen zufolge lebte man in einer Zeit des großen Wandels. Der eigene Wohlstand bestätigte das Gesetz der kosmischen Fülle. Nur Menschen, die sich durch ihre Gedanken selbst beschränkten, mussten noch darben. Die anderen, Reiferen, hatten bereits Anteil an der göttlichen Unbegrenztheit.
Für Bodo blieb auch nach dem zweiten Stück Kuchen und der dritten Tasse Kaffee sein Leben noch immer ein reduzierter Zustand in einer Projektionsebene, in der er wer weiß was zu lernen hatte. An eine Transformation glaubte er nicht – jedenfalls nicht solange er diese Luft atmete (egal ob sie nach Rosenwasser oder nach Abgasen roch). Wenn es doch ein Mittel zur Verwandlung gab, dann am ehesten die Liebe, weil sie der schönste und zugleich unsicherste Zustand war.
Bei Enrico war alles anders. Nicht nur im Haus, in das er eingezogen war, sondern im ganzen Viertel empfand Bodo die drangvolle Nähe der Menschen zueinander. Er hatte das Gefühl, die Arme an sich halten zu müssen, um nicht an andere zu stoßen.
„Sie werden dich fragen, wer du bist und was du machst“, bereitete Enrico ihn vor und warnte ihn zugleich. „Eine hombsche Partnerschaft erlaubt ihre herkömmliche, begrenzte Sichtweise nicht. Sei vorsichtig, was du sagst“, warnte er ihn.
„Wie sollen die Menschen mich akzeptieren, wenn ich nicht zeige, wie ich bin?“, fragte er. Bemerkte aber, dass sein Geliebter erschrak.
„Sich gegenseitig akzeptieren, ist das Letzte, zu was die Menschen hier bereit sind“, entgegnete Enrico erhitzt. „Vielmehr tratschen sie und zerreißen sich den Mund über einander. Wann morgens die Fensterläden hochgehen, wohin du zur Arbeit fährst, was für ein Auto draußen steht (wehe, du hast keins). Das sind die Dinge, die sie interessieren. Durch Rasen Mähen und Unkraut Beseitigen, kannst du Punkte machen.“
Wenn Enrico so redete, sah Bodo das Bild einer mit Fischen prall gefüllten Reuse. Die Fische mussten sich von ihrer Natur her bewegen, waren sich aber so nahe, dass es eigentlich gar nicht möglich war.
Enrico hatte sich kraft seiner Sinnlichkeit eine eigene Welt erobert. Am liebsten hätte er Bodo ständig im Arm gehalten, ihm alles, was ihm gerade in den Kopf kam, mitgeteilt und morgens im noch warmem Bett, mittags auf dem Sofa und abends bei besonderer Beleuchtung mit ihrer beider Schlüssel gespielt. „Ich lebe nur einmal und möchte in diesem kurzen Leben so viel Sinnlichkeit wie möglich spüren“, war seine Devise. In den eigenen vier Wänden, tagsüber die Vorhänge gezogen, nachts die Rollläden unten, konnte er seiner Sinnlichkeit folgen, die ihm einzig lebenswert schien. Gewisse Cafés, der Strand an der gegenüberliegenden Seite des Badesees und das Lila-Center bildeten als schöne Spielflächen sozusagen die Außenstellen seines sinnlichen Reiches.
Ein bisschen hatte sich Bodo schon mit ihm und diesen Menschen, die er früher gemieden hatte, angefreundet. Aber dann trat ein kleiner Dicker auf und schmiss sich an ihn ran. Er stieß ihn von sich und floh.
Zurück in der Welt der großen Rasenflächen und der kommoden kosmischen Pläne fühlte sich Bodo tief unglücklich. Es zog ihn erneut zu Enrico. Dabei verspürte er wunderlicherweise nicht Angst, sondern eine prickelnde Spannung. MLF

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