Dienstag, 24. April 2012

41 Fund an der Grenze i

Toni war unglücklich. Er liebte Mili sehr und hätte ihr gerne Schmuck gekauft. Wenn es für eine goldene Kette nicht reichte, dann sollte es mindestens eine silberne sein. Aber nicht mal dafür hatte er Geld genug. Hätte er die Augen geöffnet und seine Geliebte angesehen, so würde er bemerkt haben, dass sie eines Schmuckes nicht bedurfte. Der sanft gewölbte Bauch (japanisch: ‚Hara‘), die vollendeten Brüste, der zierliche Hals und das Gesicht einer Göttin, an nichts fehlte es ihr. Aber er war halt in seinen Vorstellungen verstrickt und konnte sich nicht davon lösen. Erst als sie ihn neckte und durch gezielte Berührungen sein Feuer entfachte, vergaß er seinen Kummer und ließ sich auch das Spiel ein.
Im Anschluss daran vernahm er von ihr die folgende Geschichte. AS

Für ihn, der kein Geld verdiente – der Chef hatte ihm verboten einen Hilfsjob anzunehmen [5 Keine Aushilfen mehr] und bei der Agentur hatten sie sich geweigert, ihn in die Reihe der Abrigatoren aufzunehmen [24 Hochzeit im Schutz des hotel de ville] – war es eine große Überraschung, plötzlich über einen Haufen von Geldscheinen zu verfügen. Hätte er diese schon früher gehabt, so wären die Jahre viel sorgloser verstrichen, schien ihm. Aber war es wirklich sein Geld? Doch wohl eher nicht. Jedenfalls hatte er, als er darauf stieß, das Gefühl gehabt, es gehöre jemand anderem. Aber von Anfang an:
Tommy war immer klar gewesen, dass er eines Tages in sein Heimatland zurückkehren müsse. Er scheute auch nicht davor zurück. Aber es war noch nicht die Zeit seiner Rückkehr, das spürte er. Doch einmal nachts, als er einen großen Spaziergang machte, stand er plötzlich in Sichtweite des Übergangs. Er sah den Zaun und die zwei Gebäude, zwischen denen der Grenzposten stationiert war. Die Parkplätze für die Wartenden bei großem Andrang, waren in dieser Nacht leer. Es standen nur zwei Wagen am Durchgang. Beim vorderen sah er einen Beamten, der den Ausweis kontrollierte. Als Tommy klar wurde, wohin er gelangt war, drehte er um. Doch da sah er am Boden ein Kuvert liegen. Ein gewöhnliches langes Kuvert, wie es die Firmen für die Korrespondenz nutzen. Aber dick ausgebeult. Womit mochte es gefüllt sein?
Der Anblick dieses prall gefüllten Briefumschlags weckte in ihm sonderbare Assoziationen. Ein spleeniger Einfall, eine fremdartige Szene – wohl angeregt vom nahen Grenzübergang – tauchte in seiner Fantasie auf. Er glaubte an einem der ungezählten Grenzposten des chinesischen Reiches zu stehen. Und vermeinte, einer der spitzbärtigen Weisen habe sein unnütz gewordenes Vermächtnis fallen lassen. Als habe er verhindern wollen, dass ein geschäftstüchtiger Zöllner, aus der Arbeit, die ihm ein Leben lang nur Schimpf eingebracht hatte, Geld zu schlagen versuchte.
Aber was Tommy darin entdeckte, waren nicht Notizen und erst recht keine Weisheiten in gebundener Schrift, sondern einfach nur Geld. Der ganze Umschlag war prall gefüllt mit Geldscheinen. Was er all die Jahre vermisst hatte, lag jetzt plötzlich in großer Fülle vor ihm. Er hatte immer behauptet, dass er sich nichts aus Geld mache und hatte mit Gelassenheit hingenommen, dass ihn flüchtige Bekannte wie engste Freunde für einen Müßiggänger und Schmarotzer hielten. Aber als er jetzt das Geld vor sich liegen sah, bemerkte er doch, wie sein Pulsschlag sich änderte. Anscheinend war er nicht so immun gegen die Verlockung dieses mächtigen Tauschmittels, wie er geglaubt hatte. Er spürte eine angenehme Wärme in seinen sonst eher blassen Wangen. Ob ihn jemand gesehen hatte? Er nahm sich vor, das Kuvert umgehend auf die Fundstelle zu tragen. Vielleicht würde ihm ja ein Finderlohn zufallen. Vorne schaute ihm ein Hunderter-Schein entgegen. Eine kleine Erleichterung wollte er sich an dem Glückstag gönnen. Er nahm ihn, faltete ihn schnell mit der freien Hand und steckte ihn in die rechte Gesäßtasche. Aber schon diese winzige Selbstbelohnung regte in ihm Schuldgefühle. Die werden davon ausgehen, dass ich mich bedient habe und werden mich filzen. Aber der Hunderter wollte nicht mehr aus der Tasche heraus. Vom Spaziergang zurück, trug er das Kuvert nicht ins Haus, sondern legte es in die Werkstatt. MLF

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