Montag, 2. April 2012

31 Der gefrorene Himmel j


Als er wieder an der Terrassentür vorbeigeht, kommt ihm plötzlich die Vermutung, der Himmel könnte gefroren sein. Anders kann er sich die plane Fläche, an die er von unten dransieht, nicht erklären. Er öffnet die Tür und tritt nach draußen. Seine Sehstrahlen gleiten unter der Himmelsdecke durch. Sie ist platt wie ein gefrorener See. Aber die Oberfläche gleicht nicht der von Eis, sondern scheint vielmehr genoppt wie Leder. Er will es wissen. Mit der Linken hält er sich am Geländer fest und reckt die rechte Faust und drückt sie gegen die Himmelsdecke. Die Oberfläche gibt nach, etwa fausttief kann er eindringen. Gefroren scheint der Himmel schon zu sein, aber die Unterfläche ist angetaut, was das Eindringen in den Randbereich erlaubt. Er schüttelt den Kopf, verlässt den Balkon und schließt die Tür. Seltsam, denkt er, es gibt doch immer wieder Dinge, die ganz neu sind für mich.
Als Lothar in den Dachraum hochkommt, legen Imelda und Tamura ihre Arbeiten zur Seite. Er hat den Eindruck, dass sie mit der Pause auf ihn gewartet haben. Also setzt er sich zu ihnen. Sie suchen beide seine Nähe. Er müsste nur die Hand ausstecken und könnte sie oder ihn zärtlich umfassen. Er spürt, dass beide es wünschen. Das liegt wohl an dieser intimen Arbeit, schließt er. Sie fordert Zähigkeit und Ausdauer und involviert doch auch das Gemüt. Imelda neigt sich ihm zu und reibt ihren Kopf an dem seinen. Ihr langes Haar streicht über seine linke Schulter. Das Muttermal auf ihrer Wange fällt ihm auf. Es befindet sich eine Fingerbreite unter dem rechten Wangenknochen – genau an derselben Stelle wie meines, denkt er. Zur Kontrolle fährt er sich über die rechte Wange. Tatsächlich, seines ist auch rechts. Nach einer Weile wird ihm Imeldas Aufdringlichkeit zu viel. Er weicht zurück und wendet sich Tamura zu. Mit der Fingerspitze fährt er behutsam über die Kontur seines schön geschnittenen Profils. Das verträgt Imelda nicht. Sie springt auf und gebärdet sich wie wild.
„Wer leistet hier eigentlich die Arbeit? Geht es um den Inhalt oder kommt es nur auf die Oberfläche an!“ Völlig irrational, was sie von sich gibt.
Lothar zieht sich von Tamura zurück. Er fürchtet das sensible Gleichgewicht zwischen ihnen und ihm könnte gestört werden. Dass ihr mit Argumenten nicht beizukommen ist, weiß er zur Genüge. Er hätte ihr nicht ausweichen dürfen. Tamura hätte er seine Bewunderung auch ein anderes Mal zeigen können, wenn sie mit sich selber beschäftigt wäre. Also gibt er nach.
„Komm“, sagt er und bittet sie zu sich.
Schmollend setzt sie sich mit dem Rücken vor ihn. Er umfasst sie mit den Armen, presst sich an sie und legt den Kopf an den ihren. Tamura zeigt keine Eifersucht. Vielmehr huscht ein Lächeln über seine feingeschnittenen Züge.
„Ist ja gut, du bist meine Teuerste“, flüstert ihr Lothar ins Ohr. Sie genießt es sichtlich und beruhigt sich. MLF

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