Montag, 30. April 2012

43 Weißer Overall j

Im Unigelände führt Mark Tamura auf einen Hügel und nimmt neben ihm Platz auf einer Parkbank mit Blick auf den Campus. Quaderförmige Gebäude, zum Teil miteinander verbunden, zum Teil einzeln stehend. Der Vorlesungstrakt, die Mensa, ein Verwaltungsgebäude, dahinter die Institute. Die Bibliothek sticht heraus, weil man an ihr, mit einer überkragenden Glasfront, etwas mehr architektonisches Geschick hat walten lassen. Auf den von jungen Bäumen gesäumten Wegen gehen einzelne Menschen, ab und zu auch größere Gruppen. Auffallend ist, dass sie alle eine Mappe unterm Arm oder einen Rucksack über der Schulter tragen. Er kommt auf den denkwürdigen Tag zu sprechen, an dem er die Universität verließ.
„Paradoxerweise habe ich just an diesem Tag, ein Angebot gekriegt, auf das ich lange gewartet hatte“, hebt er an. „Als ich diesen Weg dort entlang ging – er deutet auf einen geraden Weg zwischen zwei großen Gebäuden – kam mir ein großer, stattlicher Mann entgegen. Er trug einen weißen Overall, hatte den Reißverschluss weit offen. Am liebsten hätte ich die Hand in die Öffnung gesteckt und seinen Oberkörper berührt. Er bot mir die Teilnahme an einem Forschungsprojekt an. Die Aufarbeitung der Biografien und besonderen Schicksale hombscher Persönlichkeiten. Männer wie Frauen. Eine Einladung zu einem Date von einem so tollen Mann hätte mich nicht mehr freuen können, als dieses Angebot. In meinem Lieblingsgebiet forschen und dafür auch noch bezahlt zu werden, was konnte ich mir Besseres wünschen. Ein lang gehegter Traum ging in Erfüllung.“
Er schaut auf Tamura. Dessen Blick ist ganz auf ihn gerichtet, also fährt Mark fort. „Aber dann spürte ich etwas in mir zurückweichen. Ich wurde plötzlich unsicher. Die Farbe seines Kombi-Anzuges mochte einen Einfluss ausgeübt haben. Schon damals reagierte ich empfindlich auf die Farbe Weiß. In der kurzen Zeit unseres Gesprächs, hatten meine Augen zu brennen begonnen. Statt sofort zuzusagen, wie er gewiss erwartete (und ich auch), erbat ich mir Bedenkzeit. Er schien nicht enttäuscht zu sein. Was wiederum mich enttäuschte. Ich fühlte mich von einem tollen Hirsch beim ersten Hindernis fallen gelassen. Aber das war nicht der Grund meiner späteren Absage.“
Mark ging damals weiter zur Bibliothek. Es war wie immer auffällig ruhig, dafür, dass sich in diesen Gebäuden so viele Menschen aufhielten. Aus einer Saaltür hörte er die eindringliche Stimme eines Vortragenden. In der Imbiss-Ecke lachten ein paar Studenten. Aber diese Laute wurden sofort aufgesogen von einer Atmosphäre des Lernens, die allgegenwärtig war. In der Bibliothek arbeitete Mark wie gewohnt. Er vergaß sogar die Begegnung mit dem Strotzenden im Overall.
Als er gegen Abend den Lesesaal verließ, geriet er in den Strom der Studenten. Eine farbige Frau mit hellbrauner Haut und kurzen Haaren schwang einen Plastikbeutel und rief.
 „Vesper umsonst abzugeben!“
Mark kannte diese junge Frau. Sie war eine umtriebige Person und hatte schon einiges zur Gender-Forschung veröffentlicht. Einmal war er in der Mensa zufällig neben ihr zu sitzen gekommen. Er hatte versucht das Gespräch auf persönliche Dinge zu lenken. Sicher war sie hombsch. Es hätte ihn interessiert, was sie für Erfahrungen gemacht hatte. Aber sie gab ihm deutlich zu verstehen, dass das an diesem Ort kein Thema war. Es ging um Forschung und nicht um Persönliches.
Als er den Beutel sah, verspürte er Hunger, sah aber, dass dieser nichts als eine trockene Brezel enthielt und wandte sich ab.
Als nächstes drängte ein verrückter Typ durch den Strom der Studenten. Er balancierte auf einem Stock das Tablett mit seinem Mensaessen. Auch er bot es an. Aber niemand schien sich dafür zu interessieren, nicht mal er selber. Da hob er das Tablett auf einen Stapel von Geschirr, der sich an der Wand hoch bis zum oberen Stock türmte. Dort war das Küchenfenster. Mark sah, wie sie die Tabletts oben reinnahmen, um sie abzuräumen. Was für ein eigenartiger Kreislauf, dachte er.
Als Geschenk zum Diplomabschluss hatte er ein Gerät erhalten, mit dem man Entscheidungen leichter treffen konnte. Es stammte von einer der an der Universität angesiedelten Entwicklerfirmen – ein Werbegeschenk. Die Funktionsweise war ganz einfach. Man gab die verschiedenen Ziele – meistens zwei gegensätzliche – mit zugehörigen Argumenten ein und erhielt innert Kurzem ein Diagramm, das die Bewertung der Zielpunkte anzeigte. Je nach Verteilung der Bewertungsgrade erklangen verschiedene Töne. Das Gerät war zweiteilig. Die eine Hälfte konnte man einer nahe stehenden Person geben, so dass beide davon profitierten und die Gemeinsamkeit gefördert wurde. Dem Ehemann, der Ehefrau oder sonst einer Person, mit der man gesinnungsmäßig eng zusammenzugehen wünschte. Ein schöner Nebeneffekt des Gerätes war, dass es so schön flunkerte und blinkte.
Tamura unterbricht ihn mit der Frage, wem er die andere Hälfte gegeben habe? „Oder hast du sie noch bei dir?“
„Ich hatte damals Abasi, einen jungen Farbigen, zum Freund“, gibt Mark zur Antwort. Ich mochte ihn sehr, ja, heute aus Distanz, muss ich wohl sagen, dass ich in ihn verliebt war. Aber es war mir nicht möglich mich ihm zu öffnen. Seine sinnliche Art verunsicherte mich. Trotzdem wünschte ich ihm näher zu kommen. Dazu schien mir das Werbegeschenk wie geschaffen. Ich schenkte ihm mein Zwillingsstück ungefähr ein halbes Jahr vor dem Tag, von dem ich dir berichte. Am Tag davor hatte ich bemerkt, dass meines nicht mehr blinkte. Ich hatte es gar nicht so oft benutzt. Die meisten Entscheidungen traf ich ja doch aus dem Bauch heraus. Es war mehr das fröhliche Flunkern und Blinken, das mir gefiel. Dass das Flunkern aussetzte, beunruhigte mich. Also suchte ich Abasi auf, zu sehen, ob seine Hälfte noch tat.“
Mark unterbricht sich und weist in die Richtung des WG-Gebäudes, in dem Abasi wohnte.
Tamura nickt.
„Ich traf ihn in seiner Wohnung an. Er hatte gerade ein Bad genommen und zog sich an. Da entdeckte ich, warum mein Gerät nicht mehr flunkerte. Die Innereien von seinem lagen draußen, jemand hatte sie herausgerissen. Wer anders als Abasi? Ich wollte ihm gerade Vorwürfe machen, als mein Blick in die Wanne fiel. In dem Becken lag seine kleine Schwester – unter Wasser.
„Pass auf!“, herrschte ich ihn an, „so lange unter Wasser zu sein, wird ihr nicht guttun.“
Abasi schicksalsergeben: „Die ist schon lange hinüber!“
Dass Abasi seine kleine Schwester verlor, konnte ich nicht einfach so wegstecken. Das gab den Ausschlag, dass ich dem Strotzenden im weißen Overall definitiv absagte und die Universität verließ.
Tamura schaut ihn ungläubig an. „Hast du es nie bereut?“, fragt er.
Ganz scheint er die Tragweite dieses Vorfalls noch nicht begriffen zu haben, denkt Mark und wiegt den Kopf. „Ich gebe zu, die Entscheidung damals war spontan. Erst als mir klar wurde, dass die kleine Schwester ertrunken ist, während Abasi mit meinem Diplom-Geschenk gespielt hat, habe ich sie für mich auch begründen können. Aus Verzweiflung hatte er dann das Gerät zerstört. Mark fügt hinzu, dass er den Entschluss seither nicht einen Tag bereut habe. MLF

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