…
Im Unigelände führt Mark Tamura auf einen Hügel und nimmt neben
ihm Platz auf einer Parkbank mit Blick auf den Campus. Quaderförmige Gebäude,
zum Teil miteinander verbunden, zum Teil einzeln stehend. Der Vorlesungstrakt,
die Mensa, ein Verwaltungsgebäude, dahinter die Institute. Die Bibliothek
sticht heraus, weil man an ihr, mit einer überkragenden Glasfront, etwas mehr
architektonisches Geschick hat walten lassen. Auf den von jungen Bäumen
gesäumten Wegen gehen einzelne Menschen, ab und zu auch größere Gruppen.
Auffallend ist, dass sie alle eine Mappe unterm Arm oder einen Rucksack über
der Schulter tragen. Er kommt auf den denkwürdigen Tag zu sprechen, an dem er
die Universität verließ.
„Paradoxerweise habe ich just an diesem Tag, ein Angebot gekriegt,
auf das ich lange gewartet hatte“, hebt er an. „Als ich diesen Weg dort entlang
ging – er deutet auf einen geraden Weg zwischen zwei großen Gebäuden – kam mir
ein großer, stattlicher Mann entgegen. Er trug einen weißen Overall, hatte den
Reißverschluss weit offen. Am liebsten hätte ich die Hand in die Öffnung
gesteckt und seinen Oberkörper berührt. Er bot mir die Teilnahme an einem
Forschungsprojekt an. Die Aufarbeitung der Biografien und besonderen Schicksale
hombscher Persönlichkeiten. Männer wie Frauen. Eine Einladung zu einem Date von
einem so tollen Mann hätte mich nicht mehr freuen können, als dieses Angebot.
In meinem Lieblingsgebiet forschen und dafür auch noch bezahlt zu werden, was
konnte ich mir Besseres wünschen. Ein lang gehegter Traum ging in Erfüllung.“
Er schaut auf Tamura. Dessen Blick ist ganz auf ihn gerichtet,
also fährt Mark fort. „Aber dann spürte ich etwas in mir zurückweichen. Ich
wurde plötzlich unsicher. Die Farbe seines Kombi-Anzuges mochte einen Einfluss ausgeübt
haben. Schon damals reagierte ich empfindlich auf die Farbe Weiß. In der kurzen
Zeit unseres Gesprächs, hatten meine Augen zu brennen begonnen. Statt sofort
zuzusagen, wie er gewiss erwartete (und ich auch), erbat ich mir Bedenkzeit. Er
schien nicht enttäuscht zu sein. Was wiederum mich enttäuschte. Ich fühlte mich
von einem tollen Hirsch beim ersten Hindernis fallen gelassen. Aber das war
nicht der Grund meiner späteren Absage.“
Mark ging damals weiter zur Bibliothek. Es war wie immer
auffällig ruhig, dafür, dass sich in diesen Gebäuden so viele Menschen aufhielten.
Aus einer Saaltür hörte er die eindringliche Stimme eines Vortragenden. In der
Imbiss-Ecke lachten ein paar Studenten. Aber diese Laute wurden sofort
aufgesogen von einer Atmosphäre des Lernens, die allgegenwärtig war. In der
Bibliothek arbeitete Mark wie gewohnt. Er vergaß sogar die Begegnung mit dem Strotzenden
im Overall.
Als er gegen Abend den Lesesaal verließ, geriet er in den Strom der
Studenten. Eine farbige Frau mit hellbrauner Haut und kurzen Haaren schwang
einen Plastikbeutel und rief.
„Vesper umsonst
abzugeben!“
Mark kannte diese junge Frau. Sie war eine umtriebige Person und
hatte schon einiges zur Gender-Forschung veröffentlicht. Einmal war er in der
Mensa zufällig neben ihr zu sitzen gekommen. Er hatte versucht das Gespräch auf
persönliche Dinge zu lenken. Sicher war sie hombsch. Es hätte ihn interessiert,
was sie für Erfahrungen gemacht hatte. Aber sie gab ihm deutlich zu verstehen,
dass das an diesem Ort kein Thema war. Es ging um Forschung und nicht um Persönliches.
Als er den Beutel sah, verspürte er Hunger, sah aber, dass dieser
nichts als eine trockene Brezel enthielt und wandte sich ab.
Als nächstes drängte ein verrückter Typ durch den Strom der
Studenten. Er balancierte auf einem Stock das Tablett mit seinem Mensaessen.
Auch er bot es an. Aber niemand schien sich dafür zu interessieren, nicht mal
er selber. Da hob er das Tablett auf einen Stapel von Geschirr, der sich an der
Wand hoch bis zum oberen Stock türmte. Dort war das Küchenfenster. Mark sah,
wie sie die Tabletts oben reinnahmen, um sie abzuräumen. Was für ein
eigenartiger Kreislauf, dachte er.
Als Geschenk zum Diplomabschluss hatte er ein Gerät erhalten, mit
dem man Entscheidungen leichter treffen konnte. Es stammte von einer der an der
Universität angesiedelten Entwicklerfirmen – ein Werbegeschenk. Die
Funktionsweise war ganz einfach. Man gab die verschiedenen Ziele – meistens
zwei gegensätzliche – mit zugehörigen Argumenten ein und erhielt innert Kurzem
ein Diagramm, das die Bewertung der Zielpunkte anzeigte. Je nach Verteilung der
Bewertungsgrade erklangen verschiedene Töne. Das Gerät war zweiteilig. Die eine
Hälfte konnte man einer nahe stehenden Person geben, so dass beide davon
profitierten und die Gemeinsamkeit gefördert wurde. Dem Ehemann, der Ehefrau
oder sonst einer Person, mit der man gesinnungsmäßig eng zusammenzugehen
wünschte. Ein schöner Nebeneffekt des Gerätes war, dass es so schön flunkerte
und blinkte.
Tamura unterbricht ihn mit der Frage, wem er die andere Hälfte
gegeben habe? „Oder hast du sie noch bei dir?“
„Ich hatte damals Abasi, einen jungen Farbigen, zum Freund“, gibt
Mark zur Antwort. Ich mochte ihn sehr, ja, heute aus Distanz, muss ich wohl
sagen, dass ich in ihn verliebt war. Aber es war mir nicht möglich mich ihm zu
öffnen. Seine sinnliche Art verunsicherte mich. Trotzdem wünschte ich ihm näher
zu kommen. Dazu schien mir das Werbegeschenk wie geschaffen. Ich schenkte ihm
mein Zwillingsstück ungefähr ein halbes Jahr vor dem Tag, von dem ich dir
berichte. Am Tag davor hatte ich bemerkt, dass meines nicht mehr blinkte. Ich
hatte es gar nicht so oft benutzt. Die meisten Entscheidungen traf ich ja doch
aus dem Bauch heraus. Es war mehr das fröhliche Flunkern und Blinken, das mir
gefiel. Dass das Flunkern aussetzte, beunruhigte mich. Also suchte ich Abasi
auf, zu sehen, ob seine Hälfte noch tat.“
Mark unterbricht sich und weist in die Richtung des WG-Gebäudes,
in dem Abasi wohnte.
Tamura nickt.
„Ich traf ihn in seiner Wohnung an. Er hatte gerade ein Bad
genommen und zog sich an. Da entdeckte ich, warum mein Gerät nicht mehr
flunkerte. Die Innereien von seinem lagen draußen, jemand hatte sie
herausgerissen. Wer anders als Abasi? Ich wollte ihm gerade Vorwürfe machen,
als mein Blick in die Wanne fiel. In dem Becken lag seine kleine Schwester –
unter Wasser.
„Pass auf!“, herrschte ich ihn an, „so lange unter Wasser zu
sein, wird ihr nicht guttun.“
Abasi schicksalsergeben: „Die ist schon lange hinüber!“
Dass Abasi seine kleine Schwester verlor, konnte ich nicht
einfach so wegstecken. Das gab den Ausschlag, dass ich dem Strotzenden im
weißen Overall definitiv absagte und die Universität verließ.
Tamura schaut ihn ungläubig an. „Hast du es nie bereut?“, fragt
er.
Ganz scheint er die Tragweite dieses Vorfalls noch nicht
begriffen zu haben, denkt Mark und wiegt den Kopf. „Ich gebe zu, die
Entscheidung damals war spontan. Erst als mir klar wurde, dass die kleine
Schwester ertrunken ist, während Abasi mit meinem Diplom-Geschenk gespielt hat,
habe ich sie für mich auch begründen können. Aus Verzweiflung hatte er dann das
Gerät zerstört. Mark fügt hinzu, dass er den Entschluss seither nicht einen Tag
bereut habe. MLF
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