Toni ahnt, dass die schnöde
Welt ihm nicht erlauben wird, ausschließlich für Mili da zu sein. In der Nacht
ihr beizuwohnen, sich ihre Geschichte zu merken und den Blog zu schreiben.
Mili und er werden von der
Vermieterin mit einem Stock aus dem Haus getrieben. Sie laufen durch die
Straßen und über die Felder und landen schließlich im Wald, wo sie unter den
Ästen Schutz suchen. Sie legen sich auf ein Bett aus Moos und schlafen vor
Erschöpfung sofort ein. Am Morgen erwacht Toni. Er verspürt einen großen Durst
und geht zu einem munter plätschernden Bach. Wohl ahnt er, dass dies kein
gewöhnliches Wasser ist. Aber selbst, als er schon die Verwandlung spürt –
seine Haut verfärbt sich braun, wird samtig, die Füße werden zu schwarzen,
paarigen Hufen – trinkt er noch immer, weil das Wasser so frisch ist und so gut
schmeckt. Doch als er sich wieder zu Mili ins weiche Moos betten will,
erschrickt er doch. Wie soll er als Reh fortan für Mili den Blog schreiben? Just
im Moment, als er die Vorderläufe beugt, wacht er auf.
Mili blinzelt mit den
Augen. Sie kommt ihm ganz nah und stubst mit ihrer Nase gegen die seine. Er ist
noch ganz benommen. Die Vermieterin, was hat sie getan? Wohin sind wir
geflüchtet? Sind wir wirklich im Wald gewesen? Mili wird ungeduldig. Ihr Blick
ist fordernd: Bist du mein Gespiele oder bist du‘s nicht? Sie küsst ihn heftig,
fasst ihm zwischen die Beine, bis sein Feuer erwacht und sie sich im Bett
tollen.
Dann bettet sie sich auf
das Kissen und beginnt mit der folgenden Geschichte. AS
Am Nachmittag, wenn die Schüler weg sind und der Hausmeister auf
dem Putzfahrzeug über den Schulplatz roll, geht er - im Rock, wie sonst auch - den Hecken entlang und sammelt die Tüten,
Papierle und Vesperreste ein, die die jungen Leute achtlos in die Büsche
werfen. Das ist an sich eine völlig unsinnige Maßnahme, dessen ist er sich
bewusst, denn am nächsten Tag sieht es wieder genauso aus. Er hat auch nicht
die Absicht, die Schüler zu bekehren. Er weiß, dass in einer gewissen
Lebensphase diese Haltung angesagt ist. Man muss sich von den Kräften, die das
Leben ermöglichen, erst abnabeln, um die Chance zu bekommen, sich als Teil von
ihnen zu erkennen. Er freut sich an jeder Pflanze, die wieder in reinem Grün
dasteht und zudem gibt ihm diese gleichförmige Tätigkeit viel Muße zum
Nachdenken. Im Grund entspricht das Jugendalter unserem kulturellen Zustand,
sagt er sich. Dieser befindet sich auch in der Ablösungsphase und nur
ansatzweise scheint auf, dass die
Menschen auch in etwas eingebettet sind, das nicht von toten Gesetzen
bestimmt ist, sondern von höheren Sinnen musiziert wird. Da René den einzelnen
Busch als Teil eines größeren Gartens sieht, mag er nicht, wenn Blech, Papier
und Plastik diesen verunstalten. Aus diesem Grund verrichtet er diese wenig geachtete
Arbeit und hat dabei nicht einen Moment erwartet, dass sie eines Tages sein
Leben erleichtern würde.
Da er als Mentor eine Lücke füllt, die die Lehrer selber nicht einnehmen
können und er bei den Schülern gut ankommt, möchte die Berufsschule ihn als
solchen beschäftigen. Nur für wenige Stunden soll er belohnt werden, aber
immerhin. Das Angebot weckt in ihm die Hoffnung, wieder ein normales Leben
führen zu können, mit eigenen kleinen Einkünften. Er möchte nicht mehr auf die
Hilfe von Freunden angewiesen sein, die ihre anfängliche Bereitschaft, ihm
wirtschaftlich unter die Arme zu greifen, immer mehr durch das Erteilen von
Ratschlägen ersetzen. Doch bei der Anmeldung auf dem zuständigen Amt gibt es
Probleme. Als Mentor gilt nur, wer eine entsprechende Schulbildung durchlaufen
hat. Nicht was ein Mensch erfahren und was für eine Entwicklung er durchgemacht
hat, ist entscheidend, sondern was ihm die Lehrer beigebracht und was er
gelesen hat. Das Amt verlangt Zeugnisse und da er solche nicht vorweisen kann,
wird der Antrag abgelehnt. Überraschend zeigt sich eine andere Lösung. René
kommt doch zu dem Geld, das er dringend braucht. Der Hausmeister, der ihn als
eine wirkliche Stütze sieht, schlägt vor, ihn als Helfer bei ihm anzustellen.
Die Anmeldung einer Hilfskraft in der Hausmeisterei ist eine reine Formsache. Schneller
als erwartet hat er jetzt doch seine Vergütung. Sein Konto wird entsperrt und
er kann sich an den Wochenenden und in den Ferien selber versorgen. Schwierigkeiten
bereiten nur noch einzelne Eltern, die finden, eine Mentorschaft sei eine ehrenamtliche
Aufgabe und als solche nicht mit einer gleichzeitigen Anstellung vereinbar -
sei sie noch so gering. Die Schulleitung lässt sich zum Glück von diesen
Stimmen nicht irritieren.
Als René am Nachmittag beim Spielplatz des zur Schule gehörenden
Kindergartens vorbeikommt, sieht er ein Reh im Sandkasten stehen. Es scheint
die kreischenden Kiddies nicht zu scheuen. Normalerweise geht er hier schnell
vorbei. Im Gegensatz zu den großen Schülern, die seine weibliche Kleidung
akzeptiert haben, verspotten ihn die kleinen Gören beharrlich immer wieder. Er
wundert sich, dass das Waldtier dort bleibt und nicht wegrennt. Und noch etwas
versetzt ihn in Erstaunen. Das Tier trägt einen Trikotstoff. Über dem Fell oder
statt des Fells. Genau kann er das aus der Distanz nicht erkennen. Das Geschrei
der Kids ist verstummt, wie gelähmt starren sie auf das fremdartige Wesen. Er
lehnt sich an einen Baumstamm und beobachtet was passiert. Ihn überkommt das
verwirrende Gefühl, das Reh gleiche Nathalie. Irgendetwas an diesem Tier
erinnert ihn an diese außergewöhnliche Frau. Vielleicht der Blick oder die
Haltung des Kopfes oder doch eher der zierliche, aber kraftvolle Leib. Ja, er
glaubt Nathalie dort zu sehen. Weist sich aber sofort zurecht: Deine Art sie
dauernd gegenwärtig zu haben, führt dich zu solchen Wahnvorstellungen. So
mächtig ist sie dann auch wieder nicht, dass sie sich in ein Tier zu wandeln
vermöchte. Die ganze Zeit haben die Kinder das andersartige Reh mit offenen Mündern
begafft. Da greift eines in den Sand und wirft eine Handvoll nach ihm. Und wie
vom Anführer geheißen, fassen alle andern auch in den Sand und bewerfen es. Das
Tier flieht noch immer nicht, Für René, der zu dieser Tierart in einer
besonderen Beziehung steht und sogar selber Rehe hält, ist es schrecklich, das
mitansehen zu müssen. Die Kids versuchen sich gegenseitig zu übertreffen. Das
Tier rührt sich nicht, es bleibt unverrückt stehen. René sieht verwundert, dass
der Sand nicht am Reh abprallt, sondern durch dieses hindurch geht. Es stellt
ihm kein Hindernis dar. Kopfschüttelnd löst er sich vom Baum und geht weiter.
Da trifft ihn eine volle Ladung von dem feuchten, klebrigen Sand. Schnell
entfernt er sich und fährt sich mit der gespreizten Hand angewidert durch die
Haare, schüttelt den Kopf und wischt sich den Sand von der Bluse.
Irgendwie ist er dennoch erleichtert. Die Kinder scheinen dem
Tier nicht wirklich was anhaben zu können. MLF
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