Montag, 16. April 2012

37 Reh im Trikotstoff

Toni ahnt, dass die schnöde Welt ihm nicht erlauben wird, ausschließlich für Mili da zu sein. In der Nacht ihr beizuwohnen, sich ihre Geschichte zu merken und den Blog zu schreiben.
Mili und er werden von der Vermieterin mit einem Stock aus dem Haus getrieben. Sie laufen durch die Straßen und über die Felder und landen schließlich im Wald, wo sie unter den Ästen Schutz suchen. Sie legen sich auf ein Bett aus Moos und schlafen vor Erschöpfung sofort ein. Am Morgen erwacht Toni. Er verspürt einen großen Durst und geht zu einem munter plätschernden Bach. Wohl ahnt er, dass dies kein gewöhnliches Wasser ist. Aber selbst, als er schon die Verwandlung spürt – seine Haut verfärbt sich braun, wird samtig, die Füße werden zu schwarzen, paarigen Hufen – trinkt er noch immer, weil das Wasser so frisch ist und so gut schmeckt. Doch als er sich wieder zu Mili ins weiche Moos betten will, erschrickt er doch. Wie soll er als Reh fortan für Mili den Blog schreiben? Just im Moment, als er die Vorderläufe beugt, wacht er auf.
Mili blinzelt mit den Augen. Sie kommt ihm ganz nah und stubst mit ihrer Nase gegen die seine. Er ist noch ganz benommen. Die Vermieterin, was hat sie getan? Wohin sind wir geflüchtet? Sind wir wirklich im Wald gewesen? Mili wird ungeduldig. Ihr Blick ist fordernd: Bist du mein Gespiele oder bist du‘s nicht? Sie küsst ihn heftig, fasst ihm zwischen die Beine, bis sein Feuer erwacht und sie sich im Bett tollen.
Dann bettet sie sich auf das Kissen und beginnt mit der folgenden Geschichte. AS

Am Nachmittag, wenn die Schüler weg sind und der Hausmeister auf dem Putzfahrzeug über den Schulplatz roll, geht er - im Rock, wie sonst auch -  den Hecken entlang und sammelt die Tüten, Papierle und Vesperreste ein, die die jungen Leute achtlos in die Büsche werfen. Das ist an sich eine völlig unsinnige Maßnahme, dessen ist er sich bewusst, denn am nächsten Tag sieht es wieder genauso aus. Er hat auch nicht die Absicht, die Schüler zu bekehren. Er weiß, dass in einer gewissen Lebensphase diese Haltung angesagt ist. Man muss sich von den Kräften, die das Leben ermöglichen, erst abnabeln, um die Chance zu bekommen, sich als Teil von ihnen zu erkennen. Er freut sich an jeder Pflanze, die wieder in reinem Grün dasteht und zudem gibt ihm diese gleichförmige Tätigkeit viel Muße zum Nachdenken. Im Grund entspricht das Jugendalter unserem kulturellen Zustand, sagt er sich. Dieser befindet sich auch in der Ablösungsphase und nur ansatzweise scheint auf, dass die Menschen auch in etwas eingebettet sind, das nicht von toten Gesetzen bestimmt ist, sondern von höheren Sinnen musiziert wird. Da René den einzelnen Busch als Teil eines größeren Gartens sieht, mag er nicht, wenn Blech, Papier und Plastik diesen verunstalten. Aus diesem Grund verrichtet er diese wenig geachtete Arbeit und hat dabei nicht einen Moment erwartet, dass sie eines Tages sein Leben erleichtern würde.
Da er als Mentor eine Lücke füllt, die die Lehrer selber nicht einnehmen können und er bei den Schülern gut ankommt, möchte die Berufsschule ihn als solchen beschäftigen. Nur für wenige Stunden soll er belohnt werden, aber immerhin. Das Angebot weckt in ihm die Hoffnung, wieder ein normales Leben führen zu können, mit eigenen kleinen Einkünften. Er möchte nicht mehr auf die Hilfe von Freunden angewiesen sein, die ihre anfängliche Bereitschaft, ihm wirtschaftlich unter die Arme zu greifen, immer mehr durch das Erteilen von Ratschlägen ersetzen. Doch bei der Anmeldung auf dem zuständigen Amt gibt es Probleme. Als Mentor gilt nur, wer eine entsprechende Schulbildung durchlaufen hat. Nicht was ein Mensch erfahren und was für eine Entwicklung er durchgemacht hat, ist entscheidend, sondern was ihm die Lehrer beigebracht und was er gelesen hat. Das Amt verlangt Zeugnisse und da er solche nicht vorweisen kann, wird der Antrag abgelehnt. Überraschend zeigt sich eine andere Lösung. René kommt doch zu dem Geld, das er dringend braucht. Der Hausmeister, der ihn als eine wirkliche Stütze sieht, schlägt vor, ihn als Helfer bei ihm anzustellen. Die Anmeldung einer Hilfskraft in der Hausmeisterei ist eine reine Formsache. Schneller als erwartet hat er jetzt doch seine Vergütung. Sein Konto wird entsperrt und er kann sich an den Wochenenden und in den Ferien selber versorgen. Schwierigkeiten bereiten nur noch einzelne Eltern, die finden, eine Mentorschaft sei eine ehrenamtliche Aufgabe und als solche nicht mit einer gleichzeitigen Anstellung vereinbar - sei sie noch so gering. Die Schulleitung lässt sich zum Glück von diesen Stimmen nicht irritieren.
Als René am Nachmittag beim Spielplatz des zur Schule gehörenden Kindergartens vorbeikommt, sieht er ein Reh im Sandkasten stehen. Es scheint die kreischenden Kiddies nicht zu scheuen. Normalerweise geht er hier schnell vorbei. Im Gegensatz zu den großen Schülern, die seine weibliche Kleidung akzeptiert haben, verspotten ihn die kleinen Gören beharrlich immer wieder. Er wundert sich, dass das Waldtier dort bleibt und nicht wegrennt. Und noch etwas versetzt ihn in Erstaunen. Das Tier trägt einen Trikotstoff. Über dem Fell oder statt des Fells. Genau kann er das aus der Distanz nicht erkennen. Das Geschrei der Kids ist verstummt, wie gelähmt starren sie auf das fremdartige Wesen. Er lehnt sich an einen Baumstamm und beobachtet was passiert. Ihn überkommt das verwirrende Gefühl, das Reh gleiche Nathalie. Irgendetwas an diesem Tier erinnert ihn an diese außergewöhnliche Frau. Vielleicht der Blick oder die Haltung des Kopfes oder doch eher der zierliche, aber kraftvolle Leib. Ja, er glaubt Nathalie dort zu sehen. Weist sich aber sofort zurecht: Deine Art sie dauernd gegenwärtig zu haben, führt dich zu solchen Wahnvorstellungen. So mächtig ist sie dann auch wieder nicht, dass sie sich in ein Tier zu wandeln vermöchte. Die ganze Zeit haben die Kinder das andersartige Reh mit offenen Mündern begafft. Da greift eines in den Sand und wirft eine Handvoll nach ihm. Und wie vom Anführer geheißen, fassen alle andern auch in den Sand und bewerfen es. Das Tier flieht noch immer nicht, Für René, der zu dieser Tierart in einer besonderen Beziehung steht und sogar selber Rehe hält, ist es schrecklich, das mitansehen zu müssen. Die Kids versuchen sich gegenseitig zu übertreffen. Das Tier rührt sich nicht, es bleibt unverrückt stehen. René sieht verwundert, dass der Sand nicht am Reh abprallt, sondern durch dieses hindurch geht. Es stellt ihm kein Hindernis dar. Kopfschüttelnd löst er sich vom Baum und geht weiter. Da trifft ihn eine volle Ladung von dem feuchten, klebrigen Sand. Schnell entfernt er sich und fährt sich mit der gespreizten Hand angewidert durch die Haare, schüttelt den Kopf und wischt sich den Sand von der Bluse.
Irgendwie ist er dennoch erleichtert. Die Kinder scheinen dem Tier nicht wirklich was anhaben zu können. MLF

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