Freitag, 9. März 2012

Abrigator kontra Supernator j

Er tritt in den Begegnungsraum, entrichtet an der Theke die minimale Gebühr und sucht im Halbdunkel einen Platz im Raum, der sich links hinter der Theke erstreckt. Es dauert eine Weile, bis sich seinen Augen umgewöhnen. Ganz hinten setzt er sich auf eine Matratze. Entgegen sonstigen Tagen ist nicht viel los heute. Unweit von ihm sitzt eine Gruppe von jungen Männern, ziemlich coole Typen. In ihrer Mitte liest einer aus einem Buch vor. Die andern umringen ihn. Der Inhalt des Buches scheint sehr spannend zu sein. Zwischendurch dringt ein Stöhnen oder ein Laut der Verwunderung an sein Ohr. Aber er wagt es nicht, sich zu ihnen zu setzen, die könnten sich gestört fühlen.
Als eine ganze Weile lang niemand Neues kommt und außer den Jungs nur noch die Freunde von den Betreibern vorne bei der Theke hocken, deren Geschwätz er nicht leiden kann, entschließt er sich den Laden wieder zu verlassen. Im Vorübergehen hört er wie vom Leser gerade die extremen Maße eines erigierten Penis beschrieben werden. Könnte das Prachtstück Mignons aus Notre Dame des Fleur sein. Von Saint Genet, diesem Heiligen der anderen Art, denkt er.
Wie er sich der Theke nähert, sieht er das Möbel mit den Teegläsern bedenklich schwanken. Mit einem Sprung kann er es gerade noch vor dem Zusammenklappen retten. Die Betreiber an der Theke glauben erst, er habe den beinahe-Einsturz verursacht. Aber schließlich bemüht sich der festgesessene Inhaber, von seiner Sitzfläche wegzukommen, um einen Hammer zu holen und Tommy zu befreien.

Mit weit gestreckten Armen sieht dieser die literarisch versierten Jungs aufstehen. Dem ersten, der an ihm vorbeigeht, ruft er zu.
„Was war das denn für ein Buch, das ihr da gelesen habt?“
Es kommt keine abwehrende Antwort, wie er erwartet hat, sondern gar keine. Dieser coole Macker schaut durch ihn hindurch. Er tut so, als gäbe es ihn nicht – unverschämt.
An der Tür kommt es zu einer Stockung. Der letzte der Jungs – derjenige, der gelesen hat – bleibt auf der Höhe von Tommy stehen. Dieser ermannt sich nochmal und fragt etwas kleinlaut:
„Ich möchte gerne wissen, was ihr da gelesen habt?“
„Abrigator kontra Supernator“, kommt prompt die Antwort. Und das Lächeln, das folgt, ist keineswegs abweisend, vielmehr verlegen, liebenswürdig. Wie als Entschuldigung, dass sie Tommy nicht eingeladen haben.
Der Betreiber dieser ungewöhnlichen Begegnungsstätte lässt Tommy viel Zeit, seine Ausdauer unter Beweis zu stellen. So kann er sich über den seltsamen Titel des Buches den Kopf zerbrechen, ‚Abrigator kontra Supernator‘. In Abrigator steckt wohl das französiche ‚l’abri‘, Schutz. Die Nähe von Abrigator und Alligator versetzt Tommy in Unruhe. Er hat eine hässliche Echse vor Augen, die in ihrem Panzer Schutz sucht und dabei für andere gefährlich wird.
Endlich kommt der Betreiber, um ihn zu befreien. Mächtig stolz rückt er mit einer Nagelmaschine an, die er beim Zimmermann im Hinterhof ausgeborgt hat.
„Dieses Regal wird jetzt nie mehr umfallen“, tönt er laut und steigt auf seinen Stuhl. Doch dem pistolenartigen Ding, entringt sich nur ein kurzes Pffff.
„Dazu braucht man Druckluft“, klärt ihn Tommy auf. „Einen einfachen Hammer, hast du keinen Hammer im Haus?“, fleht Tommy, einen Fluch unterdrückend.
„Was? Ein Hammer? Ich weiß nicht, ob wir sowas noch haben.“
„Ein Hammer wie ein Buch, wird sich nie erübrigen“, sagt Tommy seinerseits ziemlich volltönig und kommt sich dabei etwas altklug vor. Der Spruch könnte von ihm sein, aber sicher haben ihn andere schon vor ihm ausgesprochen. Der Betreiber macht sich jetzt die Mühe im Keller nachzuschauen.
Während die Arme langsam zu schmerzen beginnen, grübelt Tommy weiter. ‚Abrigator‘ erinnert ihn daran, dass er seine Mutter bald wieder um Geld bitten muss, obwohl er ihr voriges Mal geschworen hat, es sei das letzte Mal. Ich muss jetzt dem Schutz meiner Mutter und meiner Schwester entfliehen, sagt er sich, sonst werde ich zu so einer Echse. Doch wie? – Den Chef will er nicht schon wieder fragen. Das ist sowieso aussichtslos.
Da kommt ihm die Idee, er könnte die Unterstützung durch die Kommune beantragen. Wieso eigentlich nicht? Wenn jetzt sogar in Drogerieläden für ein Grundeinkommen geworben wird. Weg von Mutti, hin zu Tutti. Gerade noch hat er geglaubt, die Arme fallen ihm ab. Jetzt wird ihm plötzlich ganz leicht. Dass ihm das nicht schon früher eingefallen ist, unbegreiflich.
Endlich kommt der Betreiber mit einem schönen, handlichen Hammer und löst ihn ab. Tommy steigt auf den Stuhl. Mit wenigen satten Schlägen fixiert er den ersten Stahldorn, mit ein paar weiteren den zweiten. Und fertig.
„Das sitzt bombenfest“, sagt er zum Betreiber. Zur Demonstration rüttelt er daran. Nicht mal die Gläser klirren mehr. Der Betreiber nimmt den Hammer entgegen wie ein Wunderding. Als der sich bei Tommy für das lange Warten entschuldigen will, ruft dieser: „Alles tutti, tutti frutti, weg von Mutti.“ Und noch draußen auf der Straße hören sie ihn rufen: „tutti tutti, tutti frutti.“
Mit weit aufgerissenen Augen schauen sich die Hocker bei der Theke gegenseitig an. „Der macht doch sonst eher einen besonnenen Eindruck“, entfährt ihnen gleichzeitig. MLF

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