…
Er tritt in den Begegnungsraum, entrichtet an der Theke die
minimale Gebühr und sucht im Halbdunkel einen Platz im Raum, der sich links
hinter der Theke erstreckt. Es dauert eine Weile, bis sich seinen Augen
umgewöhnen. Ganz hinten setzt er sich auf eine Matratze. Entgegen sonstigen
Tagen ist nicht viel los heute. Unweit von ihm sitzt eine Gruppe von jungen
Männern, ziemlich coole Typen. In ihrer Mitte liest einer aus einem Buch vor.
Die andern umringen ihn. Der Inhalt des Buches scheint sehr spannend zu sein.
Zwischendurch dringt ein Stöhnen oder ein Laut der Verwunderung an sein Ohr. Aber
er wagt es nicht, sich zu ihnen zu setzen, die könnten sich gestört fühlen.
Als eine ganze Weile lang niemand Neues kommt und außer den Jungs
nur noch die Freunde von den Betreibern vorne bei der Theke hocken, deren
Geschwätz er nicht leiden kann, entschließt er sich den Laden wieder zu
verlassen. Im Vorübergehen hört er wie vom Leser gerade die extremen Maße eines
erigierten Penis beschrieben werden. Könnte das Prachtstück Mignons aus Notre
Dame des Fleur sein. Von Saint Genet, diesem Heiligen der anderen Art, denkt
er.
Wie er sich der Theke nähert, sieht er das Möbel mit den
Teegläsern bedenklich schwanken. Mit einem Sprung kann er es gerade noch vor
dem Zusammenklappen retten. Die Betreiber an der Theke glauben erst, er habe
den beinahe-Einsturz verursacht. Aber schließlich bemüht sich der festgesessene
Inhaber, von seiner Sitzfläche wegzukommen, um einen Hammer zu holen und Tommy zu
befreien.
Mit weit gestreckten Armen sieht dieser die literarisch
versierten Jungs aufstehen. Dem ersten, der an ihm vorbeigeht, ruft er zu.
„Was war das denn für ein Buch, das ihr da gelesen habt?“
Es kommt keine abwehrende Antwort, wie er erwartet hat, sondern
gar keine. Dieser coole Macker schaut durch ihn hindurch. Er tut so, als gäbe
es ihn nicht – unverschämt.
An der Tür kommt es zu einer Stockung. Der letzte der Jungs – derjenige,
der gelesen hat – bleibt auf der Höhe von Tommy stehen. Dieser ermannt sich
nochmal und fragt etwas kleinlaut:
„Ich möchte gerne wissen, was ihr da gelesen habt?“
„Abrigator kontra Supernator“, kommt prompt die Antwort. Und das
Lächeln, das folgt, ist keineswegs abweisend, vielmehr verlegen, liebenswürdig.
Wie als Entschuldigung, dass sie Tommy nicht eingeladen haben.
Der Betreiber dieser ungewöhnlichen Begegnungsstätte lässt Tommy
viel Zeit, seine Ausdauer unter Beweis zu stellen. So kann er sich über den
seltsamen Titel des Buches den Kopf zerbrechen, ‚Abrigator kontra Supernator‘. In
Abrigator steckt wohl das französiche ‚l’abri‘, Schutz. Die Nähe von Abrigator
und Alligator versetzt Tommy in Unruhe. Er hat eine hässliche Echse vor Augen,
die in ihrem Panzer Schutz sucht und dabei für andere gefährlich wird.
Endlich kommt der Betreiber, um ihn zu befreien. Mächtig stolz
rückt er mit einer Nagelmaschine an, die er beim Zimmermann im Hinterhof
ausgeborgt hat.
„Dieses Regal wird jetzt nie mehr umfallen“, tönt er laut und
steigt auf seinen Stuhl. Doch dem pistolenartigen Ding, entringt sich nur ein
kurzes Pffff.
„Dazu braucht man Druckluft“, klärt ihn Tommy auf. „Einen
einfachen Hammer, hast du keinen Hammer im Haus?“, fleht Tommy, einen Fluch
unterdrückend.
„Was? Ein Hammer? Ich weiß nicht, ob wir sowas noch haben.“
„Ein Hammer wie ein Buch, wird sich nie erübrigen“, sagt Tommy
seinerseits ziemlich volltönig und kommt sich dabei etwas altklug vor. Der
Spruch könnte von ihm sein, aber sicher haben ihn andere schon vor ihm
ausgesprochen. Der Betreiber macht sich jetzt die Mühe im Keller nachzuschauen.
Während die Arme langsam zu schmerzen beginnen, grübelt Tommy
weiter. ‚Abrigator‘ erinnert ihn daran, dass er seine Mutter bald wieder um
Geld bitten muss, obwohl er ihr voriges Mal geschworen hat, es sei das letzte
Mal. Ich muss jetzt dem Schutz meiner Mutter und meiner Schwester entfliehen,
sagt er sich, sonst werde ich zu so einer Echse. Doch wie? – Den Chef will er
nicht schon wieder fragen. Das ist sowieso aussichtslos.
Da kommt ihm die Idee, er könnte die Unterstützung durch die
Kommune beantragen. Wieso eigentlich nicht? Wenn jetzt sogar in Drogerieläden
für ein Grundeinkommen geworben wird. Weg von Mutti, hin zu Tutti. Gerade noch
hat er geglaubt, die Arme fallen ihm ab. Jetzt wird ihm plötzlich ganz leicht.
Dass ihm das nicht schon früher eingefallen ist, unbegreiflich.
Endlich kommt der Betreiber mit einem schönen, handlichen Hammer
und löst ihn ab. Tommy steigt auf den Stuhl. Mit wenigen satten Schlägen
fixiert er den ersten Stahldorn, mit ein paar weiteren den zweiten. Und fertig.
„Das sitzt bombenfest“, sagt er zum Betreiber. Zur Demonstration
rüttelt er daran. Nicht mal die Gläser klirren mehr. Der Betreiber nimmt den
Hammer entgegen wie ein Wunderding. Als der sich bei Tommy für das lange Warten
entschuldigen will, ruft dieser: „Alles tutti, tutti frutti, weg von Mutti.“
Und noch draußen auf der Straße hören sie ihn rufen: „tutti tutti, tutti
frutti.“
Mit weit aufgerissenen Augen schauen sich die Hocker bei der
Theke gegenseitig an. „Der macht doch sonst eher einen besonnenen Eindruck“, entfährt
ihnen gleichzeitig. MLF
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