Dienstag, 27. März 2012

29 Der Zug des Herzens j


 „Es würde mich mal interessieren, was aus all den Stücken wird, die an meinem Platz zugeschnitten werden?“, fragt Erduan den Product Manager.
„Sie können mich gerne begleiten, wenn Sie interessiert sind. Ich muss sowieso etwas erledigen oben. Sollen wir gleich gehen?“, bietet dieser ihm an.
Erduan nickt mit Nachdruck.
Über einen langen Flur und einen Lift gelangen sie nach draußen und stehen unter einer lichten Überdachung vor einem Wirrwarr von Stellwänden. Als in der Ferne jemand auftaucht, tritt sein Begleiter unvermittelt in eine der Öffnungen. Kurze Zeit später hört Erduan von drinnen ein Wiehern und noch eines. Die Person in der Ferne scheint darauf zu reagieren, sie verschwindet ebenfalls in dieser labyrinthartigen Anlage.
Nach einer Zeitspanne kehrt der Product Manager zurück. Er trägt den Kopf eines Pferdes, samt Hals unter dem Arm. Erduan starrt halb misstrauisch, halb bewundernd auf diesen Kopf eines schönes silbergrauen Araberpferdes. Aufgrund des Wieherns, hat er geschlossen, dass es sich bei dieser Anlage um eine Pferdestallung handelt. Der Pferdekopf irritiert ihn.
Der Begleiter nimmt jetzt einen der Eingänge und winkt ihm zu folgen. Ein leises Schauern überkommt Erduan, als sie die labyrinthische Anlage betreten. Die hohen Wände lassen keinerlei Überblick zu. Nach wenigen Abzweigungen hat er schon jede Orientierung verloren. Der Begleiter bleibt schließlich vor einer unauffälligen Tür stehen. Er stellt den Pferdekopf mit dem Halsquerschnitt auf den Boden und schließt die Türe auf. Erst jetzt erkennt Erduan in diesem Kopf eine überdimensional große Springerfigur. Sie betreten einen einfachen Raum. In der Mitte des nur etwa zehn Quadratmeter großen Raumes steht ein einfacher Tisch, die Wand linkerhand ist von einem Regal verdeckt. Das ist die ganze Möblierung. Der Tisch ist aus hellem Birken- oder Ahornholz gefertigt. Die schlichte Platte überragt kaum die Zargen, die den vier glatten Beinen Stabilität geben. Sein Blick fällt auf ein Buch, das flach im Regal liegt. Das Cover ist aufwändig gestaltet, mit reliefartigen Vertiefungen. Er nimmt das Buch aus dem Regal und legt es auf die Tischplatte. Sodann schließt er die Augen und ertastet mit den Fingerspitzen die vielfältigen Formen. Dann schlägt er es auf und liest. ,Dem interessierten Leser erschließt dieses Buch viele Weisheiten und Geheimnisse‘.
Erduan zweifelt nicht, dass es sich um ein kostbares Buch handelt. Trotzdem schaut er skeptisch auf das Buch. Soll ich mir das wirklich antun, in diesem Buch zu lesen?, fragt er sich. Zum Product Manager gewandt, äußert er.
„Was nützen mir Weisheiten? Da werde ich doch bloß zu einem Stubengelehrten, zu einem Sophisten.“
Der Begleiter macht einen verwunderten Eindruck. Anscheinend kann er Erduans Zurückhaltung nicht verstehen.
Mehr seinem Begleiter zuliebe nimmt Erduan das Buch mit.
Aber das Buch hat eine große Wirkung auf ihn. Schon am Tag drauf – das Wochenende ist gekommen – geht er zum Bahnhof und steigt in den Zug ein. Der Zug trägt die Aufschrift le train du coeur und fährt nach Paris. MLF

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