Mittwoch, 8. Februar 2012

7 Der große Schriftsteller ist tot


Obwohl ich die halbe Nacht wachlag, bemerkte ich nicht, wie Mili zu mir schlüpfte. Ich erschrak und glaubte ein toter Körper liege neben mir. Aber dann drehte sie mir den Kopf zu und lachte. Ich blieb bedrückt und fragte sie:
„Was ist es denn, was uns nachts wachhält?“
„Chommer ond Stouz“ (Kummer und Stolz), kam prompt von ihr.
Ich musste lachen. Nicht, weil ich, was sie sagte, so komisch fand, sondern weil es so fremd anmutet, wenn sie Schwizerdütsch spricht. Meistens trifft sie's nämlich nicht genau.
Dann berührte sie mich und ich wurde sofort fest. Nach dem Akt berichtete sie mir die folgende Story von Tommy.   AS

In einem Schuppen unterhalb der Ortschaft hält sich Tommy auf, als er es erfährt: „Der große Schriftsteller ist tot.“
Das darf doch nicht wahr sein. Jetzt haben die Kinder erst die Mutter verloren, und jetzt auch noch den Vater. Vor Schmerz lässt er sich auf den Boden fallen und windet sich auf dem feuchten Lehm, ob der Unbegreiflichkeit der Existenz. Er versucht sich die Kinder vor Augen zu rufen, kommt aber nur bis zum Ältesten, Franz. Oh, wie wird der sich die Haare raufen und den Eltern nachtrauern. Ich muss unbedingt zur Beisetzung, fährt ihm durch den Kopf. Also rafft er sich auf, rennt raus und ruft Georg nach, der mit dem Fahrrad schon oberhalb der Kurve, die sich um Tommys Schuppen zieht. „Holt mich ab. Ich möchte mit zur Beisetzung.“
Also, wir holen dich ab, kurz nach Mittag“, ruft der Freund zurück. „Aber mach dich schön und zieh dir was Ordentliches an.“
Das Leben in einem Schuppen ist unvergleichlich anstrengender als in einer Wohnung. Deshalb hielten ihn viele für einen Penner, seit er auf den Luxus verzichten musste. Aber wenn es darauf ankam, konnte er sich schon richten. Die Kleider aus besseren Zeiten hatte er in Plastik gehüllt aufgehängt, um sie vor der Witterung zu schützen. Da ist auch der Anzug mit dabei, den er zur Beisetzung seines Vaters getragen hat. Auf dem Gaskocher erhitzt er Wasser und mischt es in einem Plastikeimer zur richtigen Temperatur. Erst wäscht er sich die Haare, dann mit einem Lappen den Körper und schließlich die Rasur.
Du hast dich aber fein gemacht“, sagt Georg anerkennend, als er sich zu ihm hinten in den Wagen setzt.
Im Auto läuft das Radio. Es ist Radio drs. Tommy spitzt die Ohren, als die Nachricht kommt: „Ein großer Schweizer Schriftsteller“, hört er, „ein Ereignis vergleichbar, als Hermann Hesse in Montagnola starb.“ Und etwas später: „In der Stadt Mumbay, in der er einen beachtlichen Teil seines Lebens verbracht hat, sind, ihm zu Ehren, alle Museen frei zugänglich, heute.“
Im Friedental ankommen, sind sie noch zu früh dran. „Komm, wir gehn in die Kneipe“, sagt Georg, „ich lad dich ein.“
Tommy wehrt ab. Er will lieber ein paar Schritte gehen, um bei seinem verstorbenen Freund zu sein. Als er über einen Kiesweg an eine Kuhweide kommt, setzt er sich auf einen Grasbüschel und denkt nach. Das mit Bombay wundert ihn schon. Dass sein Freund eine so enge Beziehung zu dieser fremden Welt gehabt hat, ist ihm nicht bewusst gewesen. Von der schockierenden Nachricht, der langen Fahrt und einer schlechten Nacht im zugigen Schuppen überkommt ihn plötzlich eine bleierne Müdigkeit. Er legt sich zur Seite und fällt augenblicklich in einen tiefen Schlaf.
Als er erwacht, streift ihm etwas über die Wangen. Er nimmt einen Jungen war, der in jeder Hand eine tote Maus hält und sie ihm durchs Gesicht streicht. Tommy zürnt, aber er ist nicht in der Lage sich aufzurichten. Alles was er vermag, ist die rechte Hand zu heben. Die legt er dem Jungen um den Kopf, um ihn weg zu drängen. Dabei nimmt er ein Geschwür am Hinterkopf wahr. Eigentlich sollte ich mit diesem Jungen Mitleid haben. Einer, der alle nervt, wird gewiss nicht geliebt, sagt er sich. Die Frage, wie er sich dem Jungen gegenüber verhalten solle, erübrigt sich allerdings. Bis er endlich hochkommt, ist dieser längst verschwunden.  MLF

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