Mittwoch, 15. Januar 2014

183 Das Waldschulheim oder Warum man sich zum Träumen hinlegt




Das Waldschulheim liegt in einem Wald, der uns rätselhaft bleibt, obwohl wir ihn häufig begehen. Dieser besondere Wald gilt als dunkel und undurchdringlich und nicht zu unrecht besteht die Angst, dass man sich darin verlieren könne. Man nennt diesen Wald auch Märchenwald. Grund genug für manche Menschen seine Existenz überhaupt zu bezweifeln. Wenn wir die Geschichte vom Waldschulheim anhören, werden wir den Eindruck bekommen, dass die Zweifler im Unrecht sind. Es scheint ihn doch zu geben, diesen großen Wald, man kennt ihn nur nicht so gut, weil wir meistens die Augen schließen, wenn die ersten Schatten seiner hohen Tannen auf uns fallen.

Unbemerkt von den Nachbarn begab sich eine Familie täglich in den großen Wald. Sie verfolgten dort seit langem ein ehrgeiziges Projekt. Zwischen den uralten Bäumen hatten sie Wasserflächen mit ganz besonderen Eigenschaften entdeckt. Um diese zu studieren, hatten sie in der Nähe eine Hütte errichtet und diese im Laufe der Jahre mit viel Sorgfalt zu einer Schule ausgebaut. Das Schwierigste an diesem Projekt war gewesen, einen verlässlichen Pfad zu dieser Lichtung hin zu bahnen. Man muss nämlich wissen, dass die herkömmlichen Wege des ‚Märchenwalds‘ wie ein Flusslauf mäandern und sich in ständiger Veränderung befinden. Die drei Familienmitglieder aber begradigten mit großer Hartnäckigkeit nach und nach ihren Pfad und kämpften für seinen Erhalt. Nur so konnten sie sicher zu ihrer Arbeit in der Lichtung gelangen.

Otis, seine Frau Luise und ihre Tochter Marylin schlugen den Pfad in den großen Wald ein. Kaum auf dem Weg, wurden sie von einer Stille umfangen, als seien sie vom Schlaf in Watte gehüllt. Der Vorausgehende hatte die schnell wachsenden Äste abzubrechen, die ihnen stets von Neuem den Zugang zu verwehren drohten. Mann und Frau wechselten sich bei dieser schweißtreibenden Arbeit ab. Die Tochter brauchte trotzdem länger. Sie hatte noch nicht so kräftige Beine und zudem hing sie gerne ihren Gedanken nach. Wenn sie so weit abgefallen war, dass die Eltern sie nicht mehr sehen konnten, hielten sie inne, bis Marylin aufgeholt hatte, um sie zu mehr Eile zu ermuntern. Mit viel Kraft stiegen sie den stetig ansteigenden Pfad bergan, bis sie bei einem Felsen den höchsten Punkt ihres Weges erreichten. Von den Strapazen erschöpft, lehnten sich die Eltern an den großen Stein und pickten sich, während sie verschnauften, gegenseitig die Kletten aus den Haaren. Die Tochter ging zwei Schritte weiter und hockte sich auf die oberste der Stufen, die sie selbst angelegt hatten, um die abgründige Stelle dahinter Stufe um Stufe überwinden zu können. An dieser Stelle war der Wald etwas lichter und gab den Blick frei hinunter auf einen mäandernden Weg, der zur Lichtung führte. Auf diesem
kam ihnen ein alter Mann mit Pferd und Fuhrwerk entgegen. Er ging in geduckter Haltung neben dem Pferd her. Der Wagen war schwer beladen mit Holzplatten. So wie es aussah, machte der Alte ein griesgrämiges Gesicht. Die drei rafften sich auf und gingen ausgeruht leichten Fußes die Stufen hinab. Diese waren aus senkrecht stehenden Holzstämmen gebildet, die Otis und seine Frau auf einer Seite konkav geformt hatten, damit sie sich aneinander fügten. Als die drei von ihrem Pfad auf den kurvenreichen Waldweg kamen, war das Fuhrwerk schon hinter der nächsten Biegung zwischen den Bäumen verschwunden. Das war ihnen, bei der schlechten Laune, die sie dem Alten schon von weitem angesehen hatten, gerade recht. Einige Schritte weiter tat sich unten die Lichtung auf, mit dem langgezogenen, filigranen Holzhaus, das sie erbaut und als Seminarraum eingerichtet hatten.
Sie gingen aber nicht zur Lichtung hinunter, sondern stiegen nach links auf eine erhöhte Fläche, welche wie auch die Lichtung von ihnen gerodet worden war. Die erhöhte Stelle war von wildwachsendem Gras überwuchert. Dazwischen glänzten geheimnisvoll mehrere Wasserflächen, jede von der Größe einer stattlichen Regenlache. Einem inneren Antrieb folgend ging Otis auf eine der Wasserflächen zu und legte sich ins üppige Gras daneben. Dabei legte er sich mit dem Kopf nah an den Rand, den Blick aufs Wasser gerichtet. Derweil setzten sich Frau und Tochter ins Gras und ruhten sich von der Wanderung aus.



Kaum hatte Otis sich im Gras etwas zurechtgerückt, den Arm angewinkelt und den Kopf in die Hand gelegt, da geriet das Wasser vor ihm in Bewegung, es wallte hoch auf und spielte ihm eine spannende Szene vor. Er blickte auf eine Spielfläche. Die Anlage ähnelte einer mehrteiligen Kegelbahn mit Gaststätte. Von seiner Position aus lagen ihm die Bahnen am nächsten und die Theke stand dahinter. Er sah diese Anlage also genau in umgekehrter Richtung, als wie sie die Besucher für gewöhnlich sehen. Links von der Theke saßen auf den Zuschauer-Stufen einzelne Schüler. Unversehens war Otis ins Geschehen involviert. Er bewegte sich in der Spielfläche, die aus einem glatten, sattgrünen Rasen bestand. Dieser war mittels Talg in zwölf gleiche Streifen unterteilt. Auf diese Bahnen waren die Spielsteine gelegt, wie sie im Spiel davor gewürfelt worden waren. Die Aufgabe von Otis bestand darin, die Steine einzusammeln und sie den wartenden Schülern zu überreichen. Er sammelte einen Teil der Steine, ging damit zu den Jugendlichen und gab sie denen, die auf der ersten Stufe saßen. Die Steine verwandelten sich bei der Übergabe in Mangold-Pflanzen. Dieser Vorgang überraschte ihn selber. Er machte nicht früher halt, als bis die Spielfläche komplett geräumt war und auch der letzte Schüler sein Mangold dankend entgegen genommen hatte.



Sobald sich das Wasser gelegt hatte, erhob sich Otis und ging nach unten ins Waldschulheim. Dort hielt er das Erlebte im einzigen Sessel des Hauses sorgfältig fest. Frau und Tochter folgten ihm leise, damit er die spannende Szene nicht verlöre. Da es im Wald feucht war, machte Otis seine Aufzeichnungen auf Buchentafeln, wie man es vor wenigen hundert Jahren noch gemacht hatte, bis das Papier den Weg in diese Region gefunden hatte. Sobald Otis den letzten Satz geschrieben hatte, rief er Luise. Sie setzte sich zu ihm in den bequemen Sessel. Otis schmiegte sich an sie und rekelte sich in ihren Armen. Nach einiger Zeit raffte er sich wieder auf, um sich an die nächste Wasserlache zu legen. Luise sah ihm draußen nach, bis er rechts oben auf der erhöhten Fläche nicht mehr zu sehen war.




Sie wollte sich als Lehrerin jetzt ihrer gewohnten Tätigkeit zuwenden und einige der Buchentafeln aus dem Glasschrank holen, sie studieren und vergleichen. Aber noch ehe sie sich zur Tür gedreht hatte, sah sie eine Person den Weg herab kommen, in der sie ihre Buchhalterin erkannte. Die Stirn der Lehrerin kräuselte sich. Luise hielt die Buchhalterin zwar für eine freundliche, besorgte Person, ohne deren Hilfe sie ihr Waldschulheim längst hätten aufgeben müssen, aber wenn sie den weiten Weg bis zum Waldschulheim gelaufen kam, hatte das wohl keinen erfreulichen Grund. Das ganze Projekt des Waldschulheims lag in der Schwebe, nur dank dieser Frau hatten sie überhaupt so lange durchhalten können.

Es war denn auch tatsächlich kein erfreuliches Gespräch. Die Verwalterin klagte über die aussichtslose Lage und zeigte keine Hoffnung mehr für den Fortbestand des Projekts. Schließlich wandte sie sich um und ging mit gesenktem Kopf schnellen Schrittes zurück, als fürchtete sie in diesem undurchdringlichen Wald eingeschlossen zu werden. Sie wollte dort keinen Augenblick länger verweilen.

Als die Buchhalterin zwischen den Bäumen verschwunden war, schüttelte Luise vehement den Kopf, so als handelte es sich um Schnaken, die man auf diese Art vertreiben könne.

„Wo ist eigentlich dein Vater?“, rief sie zur Tochter nach drinnen.

Marylin war bei ihrer Lieblingsbeschäftigung. Vornüber gebeugt zeichnete sie an einem der Tische Cartoons. Sie richtete sich auf und schaute die Mutter fragend an.

„Schau doch mal nach, dein Vater ist gewiss eingeschlafen“, forderte die Mutter sie auf.

Hin und wieder schlief Otis am Wasserrand ein und konnte die Szenen des Wassers nicht aufzeichnen.

„Ja, gleich“, rief Marylin gedehnt. Sie hielt ihre Zeichnung nochmals vor sich hin und betrachtete sie aus der Distanz. Da und dort radierte sie überflüssige Striche weg und schaute sie erneut an. Halbwegs zufrieden verstaute sie ihren Zeichenblock unter dem Tisch und erhob sich.



Otis wachte von den Rufen seiner Tochter auf. „Wo bleibst du? Wir warten schon!“ feixte sie von unten, vom Weg her.

Müde von der Wanderung war er tatsächlich vom Schlaf übermannt worden. Folglich konnte er sich dieses Mal an keine Szene erinnern. Spurlos waren die Wallungen aber trotzdem nicht an ihm vorüber gegangen. Während er geschlafen hatte, waren doch seine Gefühle wach geblieben und hatten Anteil an den mal gefälligen, mal dramatischen Bewegungen des Wassers genommen. Nur eine leise Ahnung dessen, was in diesem raffinierten Theater gespielt worden war, blieb ihm erhalten. Aufzeichnen würde er dieses Mal nichts können. Daran ließ sich nichts mehr ändern. Er raffte sich auf und folgte der Tochter zur Schule.

In der Zwischenzeit hatte sich die Lehrerin von dem Konflikt mit der Buchhalterin soweit erholt, dass sie mit der Besprechung des Wassertheaters beginnen konnten. Ihr Mann holte von drinnen die neuste Aufzeichnung und gesellte sich draußen zu ihnen. Die Tochter hielt Abstand zu den beiden. Auf ihrem Gesicht zeigte sich ein eher skeptischer Ausdruck. Otis begann mit der Erzählung seines jüngsten Erlebnisses an der Wasserfläche. Seine Frau hörte gebannt zu und vergaß dabei, was die Buchhalterin ihr geklagt hatte.

„Ich sehe vor mir Spielbahnen wie in einem Bowlingcenter, aber aus umgekehrter Richtung“, berichtete er. „Eine große, breite Fläche, in zwölf Bahnen unterteilt. Dahinter sind Stufen zum Sitzen und rechts davon geht es zur Theke hoch. Ich stehe selber in der Spielfläche, die aus einem glatten Rasen besteht. Die zwölf Bahnen sind mit weißem Talg markiert. In den Bahnen liegen, als Ergebnis eines Würfelspiels, die Steine verteilt.“

Wie er nun berichtete, dass sich die Steine beim Überreichen an die Schüler in Mangold verwandelt hatten, rief die Tochter gereizt:

„Was fängt denn ein Schüler mit diesem Gemüse an?“

Die Mutter als Lehrerin ermahnte sie: „Hör genau hin, englisch ‚man‘ und ‚Gold‘, begreifst du nicht, diese Steine stellen etwas sehr Wertvolles dar.“

Stirnrunzelnd zog die Tochter ihre Jacke enger, sie fror von innen heraus. Die Erklärung ihrer Mutter hatte sie nicht befriedigt. Ihr war kalt.

Um sie aufzumuntern, fragte Luise, was sie gerade gezeichnet habe. Marylin ging nach drinnen und kam mit ihrem Zeichenblock zurück. Dabei sah sie die Eltern herausfordernd an. Auf dem Blatt waren zwei ungleiche Tiere akribisch gezeichnet, ein Frosch und eine Zikade. Der Frosch lag auf dem Rücken. Das Übergewicht seines mit Buchentafeln gefüllten Rucksacks hatte ihn nach hinten gerissen. Die Zikade stand lässig daneben und schüttelte den Kopf. In der Sprechblase darüber war zu lesen: „Ich habe dich ja gewarnt, man kann sich auch zu viel aufladen.“ 




Die Eltern sahen sich halb belustigt, halb bekümmert an, handelte es sich hierbei doch um eines der Erlebnisse bei den Wasserflächen, das Otis vor wenigen Tagen berichtet hatte. Mit Vorliebe griff die Halbwüchsige wenig schmeichelhafte Ereignisse auf und verwandelte diese in Cartoons.

Otis und Luise entschieden sich, das jüngste Erlebnis unter dem Titel ‚Mangold-Spiel‘ aufzubewahren. Daraufhin nahm die Lehrerin die Buchentafel und verstaute sie in den Schrank zu den vielen andern, welche sie für den Unterricht im Waldschulheim zu verwenden beabsichtigte. Die, welche sie nicht verlangte, steckte Otis in die Nebenräume, die von den vielen, als weniger wichtig geltenden Buchentafeln, überquollen. Der Alte, der sich des Waldschulheimes annahm, spannte deshalb gelegentlich sein Pferd vor den Karren, holte die Tafeln aus den Nebenräumen und packte sie auf den Wagen. Er fuhr sie auf dem mäandernden Weg in den Wald – wie an diesem Morgen geschehen. Weder die Lehrerin noch ihr Mann wussten wohin er sie brachte.



Trotz der scheinbar ausweglosen Lage ließen die drei sich nicht entmutigen. Wider Erwarten fand die Buchhalterin doch noch einen Weg. Schon bald weckten die kostbaren Tafeln aus dem Schrank des Waldschulheims großes Interesse und fanden begeisterten Anklang. So verging Tag um Tag und wenn sie nicht gestorben sind, dann agieren sie noch heute im Märchenwald. MLF mit Illustrationen von Hans-Christian Rost




Mittwoch, 31. Juli 2013

159 Visualisieren des Waldes



Als ausländischer Gast zu Besuch in China genoss Otis eine privilegierte Behandlung. Zum Höhepunkt des Empfangs befanden sie sich in Schiffen auf dem Wasser. Auf einem speziellen Boot bereiteten ihm gegenüber zwei Künstlerinnen, vor dem Hintergrund einer bizarren städtischen Skyline, eine Performance vor. Rechts von Otis stand der Regent auf einem herrschaftlich glitzernden Schiff, umgeben von seinem Stab. Ausnahmsweise hatte der Regierende den Auftritt einer landsmännischen Künstlerin erlaubt. Die strikte Zensur, die sonst die Artisten in die Verborgenheit drängte, wurde zum Gefallen des fremden Gastes gelockert. Bei den Künstlerinnen handelte es sich um Gitta, die Schwester von Otis und eine chinesische Artistin, mit der sie befreundet war. Ihr schwimmender Untersatz war ein Floß von einer länglichen Nierenform. Mit etwas Grün ausgelegt, suggerierte der Untersatz eine schwimmende Insel. Otis hörte munkeln, dass sie nackt auftreten würden.
Gut, dachte er, schau ich mir gerne an. Doch, was er zu sehen bekam, war Zauberei.
Er sah wie die fremde Künstlerin alles, was sie vor sich aufgehäuft hatte, umfasste. Sie bewegte ihre flinken Hände darüber wie eine Klavierspielerin oder eine Datentypistin. Die Finger waren, wie er deutlich sah, von der fortgesetzten Aufgabe wund. Ihre Gesichtszüge waren nicht asiatisch, vielmehr erkannte er in ihr den Typ Künstlerin, wie man sie in seiner Heimat oft als Artistinnen in Zirkusshows sieht. Straff gespannte Haut über den Wangenknochen, ein festes Kinn und ein kühler, unbeirrbarer Blick. Die dunkelbraunen Haare, glatt nach hinten gefasst, verstärkten noch die Taffheit, die sie ausstrahlte. Und doch war da zugleich etwas sehr Sanftes in ihrem Gesicht und in ihren feinen Gliedern. Sie fuhr mit ihren Händen über den geordneten Haufen vor sich. Plötzlich geschah’s. Vor ihr tanzte ein Vorhang aus kleinen schwarzen Wolken, in Abstand zueinander. Genau besehen, tanzten die Wölkchen nicht, sondern schwebten in der Luft. In genauen Abständen, ein großes Raster bildend, vier Meter hoch und mehrere Meter breit. Gebannt starrten alle auf diese schwarzen Wölkchen. Da erst wurde das Eigentliche sichtbar. In diesem Raster erschienen Büsche und kräftige Bäume, ein dichter, sattgrüner Wald nahm Gestalt an. Von schwarzen Wattewolken wurde ein Wald beschworen. Ein magischer Wald. Es herrschte vollkommene Stille, wie es sie sonst nur im Schlaf gibt. Selbst das Schlagen der Wellen an die Boote war verstummt. Als wäre sogar das Meer von dieser Erscheinung gebannt.
Otis spürte wie die Spannung stieg, die Künstlerin würde sie nicht ewig halten können. Also schlug er die Handflächen aufeinander. Tosender Applaus setzte ein, während die schwarzen Wölkchen wie zahme Tiere nacheinander in die Arme der Künstlerin zurückglitten und das Bild des Waldes langsam verblasste.

Einen zusätzlichen Tag seines Aufenthalts nutzend, besuchte er ein berühmtes, am Rand des städtischen Molochs gelegenes Mahnmal. Mit einem aktuellen Reiseführer in der Hand schlug er sich selber zu dem bekannten Monument durch.
Er stand vor einem gewaltigen Sockel der staatlichen Autobahn. Darin steckte, in nur wenigen Metern Höhe, ein Frauenkopf. Das war das berühmte Mahnmal zum Gedenken an die Hexenverbrennung. Die prominente chinesische Bildhauerin hatte das plastische Relief so gestaltet, als wäre beim Bau der Autobahn der Kopf von oben herab in den noch weichen Beton, des nach unten breiter werdenden Sockels gefallen und hätte sich dabei tief eingegraben. Wie ein gefallener Komet mit Schweif sah der Kopf aus. Die Spur des sich Eingrabens beim Herabfallen stellten die Haare der Unglücklichen dar.
Im Stadtzentrum war noch eine Abschlussveranstaltung zu Ehren des Gastes anberaumt. Um rechtzeitig zurück zu sein, stieg Otis die Stufen zur Autobahn hoch und versuchte so in die chinesische Stadt zurück zu gelangen. Doch er verstieg sich in Bergen von aufgetürmten Autobahnstücken. Nicht mal aus der Ferne konnte er den Kern der chinesischen Metropole ausmachen. Es war unmöglich dorthin zu gelangen. Enttäuscht kehrte er zurück. Verwirrt und erschöpft setzte er sich auf eine niedere Mauer zu Füßen des Mahnmals.
Da trat ein Führer an ihn heran.
„Would you like to go back to town?“, fragte er in erstaunlich deutlichem Englisch.
Otis schüttelte den Kopf, er habe es probiert, es sei unmöglich.
Der Führer wehrte den Einwand mit den Händen gestikulierend ab. „Come on, I’ll show you the way.“
Argwöhnisch richtete sich Otis auf und folgte ihm.
Der Fremde ging ihm voran um den Autobahnsockel herum. Einige Schritte weiter stießen sie auf einen schmalen hohen Bogen. Durch diesen sah er tatsächlich die städtischen Gebäude aus Stahl und Glas. Otis konnte es kaum fassen, aber die Arkade erwies sich als Eingang in die chinesische Großstadt. Noch einige Schritte weiter und sie näherten sich dem zentralen Platz auf dem die Schlussveranstaltung ihm zu Ehren stattfand.
Man hatte für die chinesische Künstlerin ein paar nützliche Dinge auf einen simplen Marktkarren gelegt. Jeans, T-Shirt, Bluse, ein Paar Schuhe, Shampoo, Zahnpasta und zwei Schachteln Zigaretten. Für diese Habseligkeiten wurde Geld gesammelt. Es fehlte ihr am Nötigsten. Ganz oben lagen Gutscheine für den Friseur, für den Fahrradladen und die Apotheke. Auf diesen waren Beträge in Euro gemalt.
Die Befürchtung beschlich ihn, sie könnte ihn, den ausländischen Gast, rupfen wollen. Doch die Preise schienen ihm moderat und er half gern. MLF

Montag, 13. Mai 2013

157 Don’t Talk to the Pilot



Wie Tonke von einem gefeierten Autor den Schlüssel zu einem Rolls Royce erhielt, diesen dann aber freiwillig zurückgab.

Nach einem nicht enden wollenden Gang durch den feuchten, dämmrigen Wald erreichte Tonke endlich die sonnige Höhe. Von hier aus konnte er, zwischen vereinzelten Bäumen, deren Duft ihn umschwebte, den Blick in eine weite Landschaft schweifen lassen. An einer schlichten, alten Kapelle vorbei steuerte er auf die Gaststätte mit der Sonnenterrasse zu. Verstreut standen einige Chalets, die nur an den Wochenenden und in den Ferien bewohnt waren. An diesem schönen Ort hatte er schon öfters gerastet, wenn er ein Manuskript beendet hatte.
Von der Terrasse aus war weiter unten am Hang eine Ansammlung von alten Gebäuden zu sehen, die den Künstlern als Treff diente und ‚Kulturzentrum am Hang‘ hieß. Tonke arbeitete gelegentlich dort. Im Atrium stand ein großes Objekt von ihm, an dem er schon lange sich abmühte. Er war mit der monumentalen Plastik bisher aber kaum aus dem Modellstadium herausgekommen.
An diesem Tag hatte das Erreichen der Höhe für ihn eine besondere Überraschung parat. Er traf vor der Gaststätte einen Gast, der, wie schon an seinen asiatischen Gesichtszügen zu erkennen war, eine weite Reise hinter sich hatte. Er war der Verfasser anspruchsvoller Bücher, die trotz ihres schwierigen Inhalts in der ganzen Welt gelesen wurden. Nachdem sie sich gegenseitig begrüßt und Tonke sich vorgestellt hatte, schilderte er dem Autor die großen Schwierigkeiten, mit denen er auf dem verworrenen Pfad im Wald zu ringen hatte.
Der Schriftsteller zeigte volles Verständnis. Er habe sich selber oft durch den Wald schlagen müssen. Außerdem sei er beim Schreiben jeder seiner Romane an einen Punkt geraten, an dem er geglaubt habe, verzweifeln zu müssen.
In diesen Worten, kam zum Ausdruck, welche Anstrengung der Schriftsteller auf seine Bücher verwandte. Das führte dazu, dass Tonke sein Manuskript nochmal durchlas und entgegen seinem früheren Dafürhalten eine weitere Überarbeitung für nötig fand.
Der Schriftsteller bekräftigte ihn darin und bot ihm überraschend seinen Wagen an. So würde er schneller zu seiner letzten Arbeitsstation zurückfinden und zeitig wieder aus dem Wald hinaus sein können. Er ging ihm voraus zum Parkplatz hinab, blieb bei einem kostbaren Wagen stehen und überreichte ihm den Schlüssel. Überdies zeigte er ihm im Handschuhfach einen dicken Geldbeutel, den er dort liegen hatte. Er solle davon verwenden, so viel er brauche, und sich damit von anderen Verpflichtungen freihalten.
Tonke war betroffen, er konnte es kaum fassen, nahm aber das Angebot dankend an. Diese Großzügigkeit half ihm Zeit zu sparen und er würde, wenn er eifrig arbeitete, den Schriftsteller wieder treffen können, solange er sich noch in der Gegend aufhielt. Er wollte diese Gelegenheit nutzen und sich mit ihm noch eingehender austauschen.
Tonke hatte gleich erkannt, dass das ein besonderer Wagen war. Aber so richtig wurde ihm dies erst bewusst, als er mit dem schweren Gefährt auf dem engen Pfad im Wald fuhr. Es handelte sich, ungelogen, um einen Rolls Royce. Der Weg war zwar breit genug und er war auch nicht sumpfig. Trotzdem passte dieses strotzende Gefährt nicht so recht zu diesem Pfad. Komisch, dachte er, es ist als fordere der Wald ein schlichteres Fortbewegungsmittel als dieses.
Der gewundene Weg, den er gegangen und den er jetzt zurückfuhr, war gleichzeitig ein alter Passionsweg, der zur traditionsreichen Kapelle auf der Kuppe führte. Bei der vorletzten Station dieses Bußweges hielt Tonke an. Hier stand auch eine Herberge für Pilger, ein robustes Gebäude im Stil eines Jägerhauses. Hinter dem Haus war eine Lichtung, auf der eine ganz besondere Stimmung herrschte. Die Luft war von Feuchtigkeit gesättigt und von den Schatten des Waldes, der den begrenzten freien Raum nach allen Seiten hin umschloss, durchwoben.
In diesem Haus hatte Tonke die vermeintliche Endfassung erarbeitet. Hier hielt er auch jetzt und bezog Quartier, um eine verbesserte Version seines Buches zu schaffen. Dank dem unerschöpflichen Inhalt des Geldbeutels konnte er in ein größeres Zimmer umziehen und sich mit Vollpension, statt nur mit Halbpension verköstigen.
Trotz diesen Erleichterungen stellt sich die Überarbeitung seines Manuskripts – wie er nicht anders erwartet hatte – als ziemlich schwierig heraus. Es forderte wiederum seine ganzen Kräfte. Er musste sich das Ziel erst mal aus dem Kopf schlagen, um ganz in seiner Arbeit aufgehen zu können.
Andererseits musste er dem Schriftsteller Bescheid geben, dass es doch länger dauerte. Es galt auch abzuklären, wie lange er den Wagen noch behalten konnte.
Deshalb fuhr Tonke hoch zur Kuppe und von dort die lichte Seite des Berges hinab, zum Kulturzentrum am Hang. Dort residierte der berühmte Schriftsteller vorübergehend.

Der Gebäudekomplex bestand aus mehreren feudalen Bauten, die einen langen, rechteckigen Innenhof umschlossen. Das Erdgeschoss des langen Gebäudes linkerhand war von Arkaden untergliedert. Innendrin befand sich das Atrium mit dem spiralförmigen Modell seiner Plastik. Im rechten Trakt wohnte der Schriftsteller. Dort gab es auf der ganzen Länge nur einen Eingang.
Das Abpassen einer günstigen Gelegenheit, den Autor zu treffen, versetzte Tonke in eine nervöse Spannung. Er wusste, dass sich der Autor von der Öffentlichkeit möglichst fernhielt. Es hieß, er sei, als sein Roman Norwegian Wood zum Bestseller avancierte, für mehrere Jahre aus seinem Land geflüchtet, um einer Vereinnahmung durch die Medien und durch Neugierige auszuweichen. Bitter bemerkte Tonke, dass er jetzt auch einer von denen war, die versuchten die Aufmerksamkeit des Schriftstellers auf sich zu ziehen und ihn so von seiner Schreibtätigkeit ablenkten. Tonke nahm sich vor zu warten, bis der Autor von sich aus zu einem Gespräch unter die Arkaden kam. Man hatte ihm nämlich gesagt, dass der berühmte Schriftsteller sich gelegentlich dort zeige. Ein tieferes Gespräch sei jedoch bisher nicht zustande gekommen. Der gefeierte Autor sei äußerst zurückhaltend. Tonke meinte einen gewissen Unmut herauszuhören, der sich gegen den berühmten Gast angestaut hatte. Vielleicht war das unvermeidbar, wenn jemand, den man bisher aus der Ferne verehrt hatte, plötzlich zum Greifen nah vor einem stand.
Zufällig stieß Tonke aber schon davor auf den zurückhaltenden Schriftsteller. Er saß im überwölbten Eingang seines Wohntraktes. Tonke vermutete, dass er nicht mochte, spontan angesprochen zu werden. Aber warum zeigte er sich dann? Diese Gelegenheit musste er nutzen, schien ihm und er ging in die Öffnung hinein. Der Autor saß dort im Schneidersitz und hielt einen plastisch geformten Gegenstand in den Händen und betrachtete diesen, wie es schien. Der gewölbte Eingang war einige Meter tief. Tonke trat ein paar Schritte näher und beobachtete die Reaktion des Autors. Er schien ihn noch nicht bemerkt zu haben. Näherkommend sah er, dass hinter der Hand, die den Gegenstand hielt, ein aufgeschlagenes Buch lag. Der Schriftsteller betrachtete gar nicht den Gegenstand, sondern las in einem Buch. Klar, der Autor war Vielleser. Er sagte von sich, dass er unzählige Werke der Weltliteratur gelesen habe, manche sogar zweimal. Als Tonke das durchschaute, zog er sich schnell zurück. Trotzdem traf ihn noch ein abwehrender Blitz aus den Augen des Schriftstellers.

Endlich kam der Augenblick, da der Autor sich unter den Arkaden zeigte. Tonke freute sich, dass jetzt der Moment gekommen war, sich mit ihm auszutauschen. Als ein gutes Omen erachtete er, dass der Schriftsteller sich für die Spiralfigur interessierte, die Tonke dort aufgebaut hatte. Obwohl sie zu zwei Dritteln aus Styropor bestand und nur im oberen Bereich bekleidet war, stellte sich der Autor doch darunter und betrachtete sein riesiges Objekt, das einer Wendeltreppe nicht unähnlich war, eingehend. Er hatte wieder den Gegenstand dabei, den er beim Lesen in der Hand gedreht hatte. Erst jetzt erkannte Tonke, dass es ein Flügelteil seiner Spiralplastik war, das wohl heruntergefallen war. Die Anwesenden wurden unruhig. Sie warteten darauf, dass der Schriftsteller zum Austausch kam. Doch der ließ sich Zeit.
Schließlich kam er doch in die Runde.
Doch wie sich bald herausstellte, war ein Austausch kaum möglich. Sobald eine Frage formuliert wurde, verzog der Autor das Gesicht oder betrug sich wie eine Kratzbürste. Jetzt lernte auch Tonke seine Flausen kennen, vor denen man ihn schon gewarnt hatte. Aber Tonke bemerkte, dass es nicht bloß Launen waren, sondern eine heftige psychische Abwehrreaktion. Sein Gesicht wurde unwillkürlich zur Fratze verzogen und der Körper verformte sich. Das musste sehr schmerzhaft sein. Tonke fiel vor allem auf, dass er unter massiven Rückenschmerzen litt. Er kannte dies zu gut aus eigener Erfahrung.
Es regnete Kritik auf den sonst hochgelobten Schriftsteller. Warum er nicht offen rede? Was er mit solchen Sperenzien bezwecke? Ob ein Autor seiner Leserschaft nicht Rede und Antwort schuldig sei?
Tonke glaubte ihn in Schutz nehmen zu müssen und rief in die Runde. „Picasso said: Don’t talk to the pilot”
Dieser Satz brachte die Kritiker zum verstummen und führte dazu, dass der Autor sich ihm zuwandte. Um ihn weiter zu ermuntern, sagt er noch. „Sie sind für mich der wichtigste Autor überhaupt.“ Was nicht geschmeichelt war, sondern tatsächlich stimmte. Aber als er ihn fragte, ob er ein neues Projekt in Arbeit habe (nach 1Q84), reagierte er ihm gegenüber genau so brüsk wie gegen die anderen.
In den Verlagsbulletins stehe doch alles drin, sage er kurzangebunden.
Da sah Tonke, dass man mit ihm nicht warm werden konnte. Ein paar Worte hatten sie zwar gewechselt, doch zu wenige. Es lohnte sich für ihn nicht zu bleiben.
Der Autor bemerkte, dass er aufbrach und sagte in verbindlichem Ton. „Sie sind der erste, dem es gelungen ist, mir etwas mitzuteilen.“
Tonke fühlte sich geehrt. Der Meister hatte ihm geschmeichelt. Aber mehr als eine Floskel sah er darin nicht. (Erst später kam ihm der Gedanke, der Schriftsteller könnte das Flügelteil seiner Spiralplastik gemeint haben.)
Als er den Raum unter den Arkaden verließ, fiel ihm der Autoschlüssel ein. Er machte nochmal kehrt und überreichte dem Schriftsteller den Schlüssel und bedankte sich mit einer Verbeugung. Einen Moment hielt er inne und fragte sich, ob er auch an alles gedacht habe, was er von ihm erhalten hatte. Es war alles. Mehr war es nicht gewesen.
Vor dem Gebäude draußen strich er mit den Fingerspitzen nochmal über den dunkelgold gefärbten Wagen. Etwas wehmütig trennte er sich von diesem und stieg den Sonnenhang hoch. Bis zur Kuppe musste er laufen, dort hatte er vor ein paar Tagen, als er vom Wald kam, sein Fahrrad abgestellt. Aber als er auf dem Rad saß und den Waldweg hinunter fuhr, sog er tief den feuchten Duft des Waldes ein. Er war erleichtert. Das war doch ein viel passenderes Fortbewegungsmittel für diesen Pfad. In der Herberge wechselte er wieder in das kleine Zimmer und begnügte sich mit der sparsameren Essensvariante. Dies, obwohl er noch ein paar Scheine aus dem dicken Geldbeutel gehortet hatte, bevor er diesen wieder ins Handschuhfach zurücklegte. Bald würde ihn die Geldnot wieder in den Klauen halten. Aber solange sie ihm noch fernblieb, war er erleichtert kein gefeierter Autor zu sein. MLF